Experiment: Künstlicher Uterus. | 60 Prozent der Haie gebären ihre Jungen lebend. | Wien. "Wir wissen verflucht wenig über Haie", meint Ernst Mikschi, Ichthyologe und Leiter der Fischsammlung im Wiener Naturhistorischen Museum (NHM). Im Jahr 2005 hat er nach achtjähriger Vorbereitung die große Hai-Ausstellung im Haus eröffnet.
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Obwohl Haie zu einer entwicklungsgeschichtlich sehr alten Tiergruppe gehören - erste Urhaie bevölkerten die Weltmeere schon vor rund 400 Millionen Jahren - gibt es heute noch eine ganze Reihe unbeantworteter Fragen. Insbesondere die Fortpflanzung von Haien gilt es noch genauer zu untersuchen. Im Gegensatz zu den meisten Knochenfischen, die ihre Geschlechtsprodukte ins freie Wasser abgeben, haben die zu den Knorpelfischen zählenden Haie eine innere Befruchtung. Etwa ein Drittel aller Haiarten legt Eier (Oviparie), die restlichen gebären ihre Jungen lebend (Viviparie). Bei der Viviparie gibt es bis zum Zeitpunkt der Geburt erstaunliche Formen embryonaler Ernährung (siehe Grafik).
Sehr makabere Form embryonaler Ernährung
Vor kurzem sorgte eine Aussage des australischen Hai-Forschers Nick Otway für Schlagzeilen. Mit dem Bau eines künstlichen Uterus will Otway dem Kannibalismus bei jungen Sandtigerhaien (Carcharias taurus) entgegenwirken und so die Bestandzahlen erhöhen.
Sandtigerhaie zeigen eine äußerst extreme Art der Embryonalentwicklung. Zur Fortpflanzungszeit werden in den Eierstöcken bis zu 40 Eier gebildet, die dann in den Eileitern befruchtet und anschließend mit Eihüllen umschlossen werden. In paarigen gebärmutterartigen Aussackungen der Eileiter, so genannten Gebärkammern, vollzieht sich die nachfolgende Entwicklung: In einem frühen Stadium schlüpfen die Keimlinge aus den Eiern und ernähren sich zunächst von einem recht großen Dottersack (lecithotrophe Phase). Ist der Dottervorrat aufgebraucht, beginnt das für menschliche Begriffe makabere Schauspiel.
"Mit etwa vier Monaten sind die Embryonen rund zehn Zentimeter groß und haben einen voll entwickelten und funktionstüchtigen Kiefer. Damit fangen sie dann an, ihre Geschwister zu fressen", erklärt Otway. Am Ende der neunmonatigen Tragzeit bleiben meist nur zwei Junghaie übrig, pro Gebärkammer einer, "die dann mit etwas mehr als einem Meter Größe zur Welt kommen". Otway zufolge mache dieser intra-uterine Kannibalismus die Sandtigerhaie sehr anfällig für schädigende Umwelteinflüsse, wie beispielsweise die Überfischung der Meere. Weltweit werden jährlich etwa 100 Millionen Haie getötet, 70 der rund 400 Haiarten sind bereits vom Aussterben bedroht.
Der Sandtigerhai ist global gefährdet. Durch die Entwicklung des künstlichen Hai-Uterus will Otway die Jungtiere voreinander schützen und so einen Beitrag für das Überleben der Art leisten. Derzeit ist der australische Wissenschafter mit seinem Team damit beschäftigt, künstliches Fruchtwasser zu erzeugen. Bis der erste High-Tech-Hai "geboren" werden kann, wird nach seinen Angaben noch viel Zeit und Forschungsarbeit nötig sein.
Experiment könnte der Art auch schaden
Mikschi nennt das Ganze ein "nettes Experiment". Wenn das Forscherteam rund um Otway ein Sandtigerhaiweibchen fangen und alle 40 angelegten Embryonen großziehen kann, gibt es zwar ein paar Haie mehr, ob diese es aber schaffen, sich selbst fortzupflanzen, ist Spekulation. Haie werden im Durchschnitt erst mit 15 bis 20 Jahren geschlechtsreif - eine lange Zeit, die es erst einmal zu überleben gilt. Ähnlich sieht das der US-Marinbiologe Tim Tricas. Er hält Experimente, bei denen Hai-Embryonen künstlich großgezogen werden, "für interessant und an sich wertvoll", hat aber Probleme mit der Sinnhaftigkeit. "Jedes Verhalten, das in der Natur entstanden ist, um das Überleben der Nachkommenschaft zu sichern, musste sich gegen alternative Strategien durchsetzen." Hintergrund dieses Kannibalismus ist laut Tricas, dass für zwei gesunde, starke Nachkommen die Wahrscheinlichkeit höher ist, das Erwachsenenalter zu erreichen als für viele kleine, schwächere. "Außerdem müssten sich die unter künstlichen Bedingungen aufgezogenen Sandtigerhaie nie gegen Geschwister behaupten. Das könnte sogar den gesamten Genpool der Art schwächen", gibt er zu bedenken.