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Kanonen aus Papier

Von Edwin Baumgartner

Wissen
... sowohl das Jubiläum der Ersten Republik als auch das Revolutionsjahr 1848.
© CC/Haeferl/wikipedia

Der Buchmarkt konzentriert sich zunehmend auf Kriegsgeschichte.


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Die Folgen des Prager Fenstersturzes stellen mögliche andere Themen in den Schatten...
© imago/Leemage

Wenn die Kanone singt, der Euro in die Kasse springt: Welch ein Jahr des Ablasshandels ist 2018 für den Sachbuchleser! Das Kriegerische ganz vorne mit dabei. Worüber sollte man denn sonst jubiläenhalber schreiben? Darüber, dass hundert Jahre zuvor ein Krieg beendet wurde? Frieden ist fade, das ist die Devise. Ohne Konflikt kein Buch - das gilt mittlerweile auch für Sachbücher.

Zum Beispiel: Wo sind die Bücher über das 1818er Jahr? Was da war im Jahr 1818? - Auf dem Aachener Kongress schreiben sich fünf Nationen als Großmächte Europas fest: Russland, Großbritannien, Österreich, Preußen und Frankreich. In Schweden wechselt die Monarchie von der Dynastie Holstein-Gottorp zur Dynastie Bernadotte. Der Ostersonntag fällt auf den 22. März. Das ist sein frühestmöglicher Termin. Erst im Jahr 2285 wird das wieder geschehen. Nur Krieg - Krieg hat es keinen gegeben im Jahr 1818, sieht man vom chilenischen Unabhängigkeitskrieg ab. Was interessiert einen Mitteleuropäer schon Chile? Viel zu weit entfernt! Außerdem ist eine russische Expedition auf der Suche nach der Nordwestpassage gescheitert - noch ein nutzloses Unterfangen in dieser Angelegenheit.

Die Wiederholung des Overkills

Und sonst? - Ja, der Dreißigjährige Krieg. Zweiter Prager Fenstersturz am 23. Mai 1618, ein verwüstetes Land und sechs Millionen Tote bis zum Westfälischen Frieden am 24. Oktober 1648. Das ist das Futter, aus dem das historische Sachbuch ist. In der Buchhandlung liegt denn auch Walter Hämmerles "Der neue Kampf um Österreich", ein blitzgescheites Nachdenken über das heutige Österreich und wie es dazu gekommen ist, eingekeilt zwischen Herfried Münklers 976 Seiten schweren Wälzer "Der Dreißigjährige Krieg", Peter H. Wilsons "Der Dreißigjährige Krieg" mit einem Gewicht von gar 1168 Seiten, wogegen sich Christian Pantles "Der Dreißigjährige Krieg" (die Fantasie bei der Titelerfindung fliegt hoch wie eine Friedenstaube aus Blei) mit seinen 368 Seiten nachgerade als Leichtgewicht ausnimmt - in Seitenzahlen bemessen, nicht an Substanz, versteht sich. So quasi zum Drüberstreuen gibt’s dann noch Heinz Duchhardts 256 Seiten starken "Weg in die Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges" - aber das Jahr ist ja noch lange nicht um, und so manche Neuerscheinung zum nämlichen Thema steht erst bevor, ob Johannes Burkhardts "Der Krieg der Kriege", Hans Medicks "Der Dreißigjährige Krieg: Zeugnisse vom Leben mit Gewalt" oder Georg Schmidts "Die Reiter der Apokalypse". Und das ist noch lange nicht alles. Da scheint es fast, als sei das Verlagsgeschäft eine bloße Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.

Es ist ein ähnliches Phänomen wie im Jahr 2014, als auf dem Sachbuchmarkt der Overkill zum Thema Erster Weltkrieg herrschte. Nur Fotobände zum Dreißigjährigen Krieg kann man naturgemäß keine herausbringen. Wenigstens Andreas Bähr gelingt ein origineller Weiterdreh des Themas in "Der grausame Komet: Himmelszeichen und Weltgeschehen im Dreißigjährigen Krieg".

Andererseits: Der Dreißigjährige Krieg ist ein Ereignis, an dem man weder vorübergehen kann, noch vorübergehen soll. Und selbstverständlich, auch das ist völlig legitim, ist jeder Verlag überzeugt, dass gerade sein Autor oder seine Autoren die wegweisenden Werke liefern. Für den Leser jedoch ist die monothematische Bespielung des Sachbuchmarktes zumindest eine Herausforderung. Mehrere tausend Seiten Dreißigjähriger Krieg werden gegen Ende des Jahres vorliegen - wie viel Lebenszeit will man in das große Sterben investieren? Das Zweitbuch zum Thema wird vielleicht gekauft - ob es auch gelesen wird, steht auf einem anderen Blatt. Das Dritt-, Viert- und Fünftbuch wird auf dem Neuerscheinungstisch allenfalls noch registriert. Und wenn gerade eines davon doch das eine bahnbrechende Werk wäre? Wächst das Lesebedürfnis mit dem Buchangebot oder ist der Markt spätestens zur Jahresmitte hin mit Büchern zum Dreißigjährigen Krieg übersättigt?

Dabei ist gerade 2018 ein jubiläenträchtiges Jahr, wenn man schon Aufhänger für Sachbücher braucht. Die Konzentration auf ein einziges historisches Thema ist kein Naturgesetz. Doch die aktuellen Bücher zum Revolutionsjahr 1848 kann man bisher an einem Finger einer Hand abzählen. Vielleicht ist ein 170-Jahre-Jubiläum nicht rund genug. Aber zumindest die österreichische Sicht auf das Zusammenbrechen des einzigen revolutionären Umtriebs der Nation müsste ein Thema hergeben.

Die extreme Fokussierung auf Kriegsgeschichte, die seit 2014 auf dem Sachbuchsektor eingetreten ist, hat den Nebeneffekt, dass die Zivilgeschichte aus dem Blickpunkt gerät. Selbstverständlich ist Kriegsgeschichte durch das Operieren mit gegnerischen Parteien von vorneherein spannender. Geschichtsschreibung ist, das hat sie mit den TV-Dokus gemein, längst weniger Faktenreihung als Fakteninszenierung.

Österreichische Nabelschau

Das aber wäre auch mit der Zivilgesellschaft möglich, wie ein Beispiel lehrt: Durch Jahrhunderte hindurch ist die Geschichte der römischen Antike fast ausschließlich als Abfolge von Kriegen und Kaiserbiografien erzählt worden. Der Britin Mary Beard gelingt eine Betrachtung der römischen Antike aus dem Blickwinkel der Beamten, Bürger und Bauern. Was bei einer 2000 Jahre und mehr zurückliegenden Gesellschaft möglich ist, sollte in Bezug etwa auf die 1968er-Bewegung nicht versagen. Oder würde an der kultischen Verehrung der objektive Blick zuschanden werden, nicht zuletzt ob der stillschweigenden Übereinkunft, dass die 1968er und die RAF streng zu trennen sind und Che Guevara ein pazifistischer Mildtäter war, und alles andere, und sei es auch noch so klug argumentiert, entweder einen Skandal, oder, schlimmer noch, die absolute Nichtbeachtung in der Diskussion auslösen würde?

Bleibt immerhin die österreichische Nabelschau: Zum Thema 100 Jahre Erste Republik sind bereits vereinzelt Bücher erschienen. Aber die 100 Jahre Frauenwahlrecht teilen sich ihr Schicksal mit dem 150. Todestag von Adalbert Stifter: historische Aufarbeitung des einen, Biografie des anderen - Fehlanzeige. Die Diskussion um Atomkraft und Umweltschutz wäre nicht zuletzt anhand der Zwentendorf-Volksabstimmung von 1978 darstellbar, aber entweder hat sich kein Autor oder kein Verlag gefunden. Dass aber die große Sternstunde Österreichs auf dem Sachbuchmarkt unter den Tisch fällt, ist wahrhaft bitter: Vor 40 Jahren, am 21. Juni 1978, zu Córdoba war’s, als Edi Finger vor der ganzen radiolauschenden Nation bekannte, dass ihn ein Torschuss Hans Krankls um den Verstand bringe und man einander um den Hals falle und herze. Die Schmach von Königgrätz - getilgt mit einem Fußtritt. Das ist die Kriegsgeschichte, die wirklich erzählt werden sollte.