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In den theoretischen Auslassungen über und öffentlichen Appellen an die Politik erfreut sich der Kompromiss seit einiger Zeit gesteigerter Popularität, im Gegenzug entscheidet sich der Pragmatismus der täglichen Praxis zunehmend gegen den Brückenschlag zwischen den Gegensätzen. Man kann das von Linz bis Wien, von Washington bis Berlin beobachten. Vor nicht allzu langer Zeit war die Lage noch genau umgekehrt, und vermutlich war das auch die bessere Kombination aus Theorie und Praxis.
Kein Wunder, dass so viele zurück zu jenen Zeiten wollen, als die Parteien den Bürgern noch ein X für ein U vormachen konnten und anschließend aber ohnehin das taten, was sie für alle (und für sich selbst) für das Beste hielten. Damals empfand es noch niemand als weltbewegenden Widerspruch, wenn - um nur ein Beispiel zu nennen - ÖVP und SPÖ einander in Wahlkämpfen und auch sonst aufs Übelste beschimpften, herabwürdigten und bekämpften, nur um anschließend wieder gemeinsam zu regieren.
Das ist heute anders. Seit das Wahlverhalten nicht länger angeboren, sondern selbst bestimmt wird, hat sich eingebürgert, dass die Wähler von "ihren" Parteien zumindest in groben Zügen eine Übereinstimmung von Worten und Taten erwarten. Wer also jetzt ständig von "steuerverschwendenden Sozis" oder "gefühlskalten Neoliberalen", ganz zu schweigen von "faschistoiden Nationalisten" faselt, kann sich anschließend nicht einfach wieder mit solchen Menschen an einen Tisch setzen, selbst wenn er das davor Gesagte nicht wirklich ernst gemeint haben sollte.
Österreich ist mit diesem Elend nicht allein, wie ein Blick nach Deutschland zeigt. Eine Zusammenarbeit von Parteien, die bei jeder Gelegenheit von sich behaupten, für eine völlig gegensätzliche Politik zu stehen, macht auch diese in den Augen ihrer Anhänger unglaubwürdig. Sogar im EU-Parlament ist die gelebte Koalition von Christ- und Sozialdemokraten einer beharrlichen Konfrontation gewichen.
Natürlich ist es ein Fortschritt, ein Ausbruch aus der politischen Unmündigkeit, wenn die Bürger von ihren Parteien Redlichkeit in Wort und Tat fordern. Wir erleben den Fluch der Erkenntnis. Letztere ist sicher eine gute Sache, sie hat nur auch handfeste Nachteile. Und mit denen haben weder Wähler noch Parteien vernünftig umzugehen gelernt. Der Politiker, dem dies als Erstem gelingt, wird Kanzler für viele Jahre.