Ein Kanzler muss führen, heißt es derzeit besonders oft. Rein rechtlich ist das leichter gesagt als getan.
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Wir wollen Führung, das schon, aber bitte keinen Führer. Und wer, wenn nicht der Kanzler wäre berufener, diese Rolle auszufüllen. Allerdings ist das eine romantische Vorstellung von Politik, die mit der Realität wenig bis nichts gemein hat.
Tatsächlich ist die Rolle des Bundeskanzlers - und, damit verbunden der Bundesregierung - allenfalls vage beschrieben. Das beginnt mit den Rechtsvorschriften. Das Bundes-Verfassungsgesetz regelt lediglich, dass der Kanzler den Vorsitz in der Regierung innehat und dass Letztere als Kollegialorgan beschlussfähig ist, wenn mehr als die Hälfte der Mitglieder anwesend ist. Ansonsten gibt es, wie der Verfassungsrechtler Manfried Welan in einer Studie aus dem Jahr 2000 ausführt ("Der österreichische Bundeskanzler"), keinerlei Bestimmungen.
Demnach agiert der Bundeskanzler im Rahmen der Bundesregierung, vom Vorsitz abgesehen, lediglich als Erster unter fast Gleichen. Dafür sorgt zum einen das Prinzip der Ministerverantwortlichkeit; zum anderen das Einstimmigkeitsprinzip im Ministerrat; dass Letzteres lediglich geübte Verfassungswirklichkeit, aber nirgendwo verbindlich geregelt ist, kann man durchaus als eigenwillige Unterlassung bezeichnen. Die Arbeitsweise jedes Vereins ist rechtlich besser geregelt als die unserer Regierung.
Immerhin über die Zusammensetzung seiner Regierung kann der Kanzler bestimmen. Minister wird, wer von ihm zur Ernennung dem Bundespräsidenten vorgeschlagen wird; und Minister war, wer von ihm zur Entlassung dem Staatsnotar in der Hofburg empfohlen wurde. Die reale Verfügungsgewalt über die Ministerriege eines Koalitionspartners schaut zwar anders aus, aber wenigstens dafür kann man schlecht die Verfassung verantwortlich machen. "Sowohl im Verhältnis der Bundesminister zu- und untereinander, als auch im Verhältnis von Bundesministern und Regierung besteht rechtliche Gleichordnung", schreibt Welan. Dies gelte auch für den Bundeskanzler, der ja selbst Bundesminister ist. Rein rechtlich besteht also keinerlei Rangordnung in der Regierung.
Politisch liegt es auf der Hand, den Kanzler für die Leistungsbilanz "seiner" Regierung in die Pflicht zu nehmen. Rechtlich kann davon keine Rede sein: Es gibt schlicht keine "Gesamtverantwortung" für den Mann an der Spitze. Rechtliche Verantwortung setzt Zuständigkeit voraus, und es gibt eben keine Allzuständigkeit, sondern nur die spezifische Ressortverantwortung. Streng genommen kann der Kanzler nicht einmal die politische Linie seiner Regierung vorgeben.
Was der Kanzler sehr wohl hat, ist eine Generalkoordinationskompetenz. Zwar nur einfach gesetzlich geregelt, aber immerhin. Obwohl: Nur koordinieren, ohne anderen etwas anschaffen zu können, ist ein undankbarer Job: "Er kann", wie Hans Kelsen schreibt, "nur Anregungen geben, Wünsche äußern und Anträge stellen."
Wenn der Kanzler einen wirklichen Chef sehen will, muss er hinüber zum Rathaus blicken. Dort residieren Wiens Bürgermeister, die schon von Verfassung wegen eine Totalweisungsbefugnis besitzen und sich in jede Verwaltungsangelegenheit einschalten können. Kein Wunder, dass dort zu thronen der ultimative Traumjob für etliche Politiker ist.