Hat Russland früher "Das Kapital" geehrt, so lebt das Riesenreich jetzt fast ohne Kapital. Marktwirtschaft und Liberalisierung brachten dem Land eine unangenehme Nebenerscheinung - die Kapitalflucht ins Ausland. Bis zu 140 Mrd. Dollar (157 Mrd. Euro/2.154 Mrd. Schilling) sollen in den vergangenen Jahren ins Ausland gebracht worden sein.
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Leonid Ratmanow, Chef der Abteilung zur Bekämpfung von Wirtschaftsverbrechen im Innenministerium Russlands, meint, dass ein "Höhepunkt" vor zwei Jahren erreicht worden sei, als nach Schätzungen rund 18 Mrd. Dollar innerhalb von zwölf Monaten außer Landes gebracht wurden. Dieses Geld fehlt akut in der Wirtschaft. Auch Kredite des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank bleiben vorerst aus, weil der künftige wirtschaftspolitische Kurs Russlands ungewiss ist.
Die meisten Gelder werden über Scheinfirmen, aber auch bei der Abwicklung von fingierten Verträgen und Zolloperationen in Steueroasen auf Zypern, den Bahamas, Liechtenstein, Irland und andere Offshore-Zonen abgeführt. Von dort wiederum landen sie auf Bankkonten in der Schweiz, Deutschland, den USA oder Spanien.
Die russischen Behörden haben in den vergangenen Monaten versucht, diesem Kapitalabfluss mit einer Reihe von Gesetzen und anderen Maßnahmen entgegen zu wirken. Dabei sei es gelungen die jährliche "Abfluss-Rate" auf knapp 3,6 Mrd. Dollar einzudämmen, meint Ratmanow.
Duma-Abgeordnete Irina Chakamada, stellvertretende Vorsitzende des Nationalen Antikorruptionskomitees, ist gar der Ansicht, dass jeden Monat rund 20 Mrd. Dollar aus Russland "flüchten", was mit dem Jahreshaushalt Russlands vergleichbar wäre. Auf einem Seminar zur Bekämpfung der Korruption in Moskau führte sie den Kapitalabfluss vor allem auf "fehlende ökonomische Bedingungen für das Anlegen von Kapital und auf die mangelnde Sicherheit von Sparguthaben" zurück. Zudem habe die Korruption in Russland den Charakter einer nationalen Katastrophe angenommen. "Aber das Schlimmste ist, dass sich daran alle gewöhnt haben - die Gesellschaft, der Staat und die Unternehmer", sagte Chakamada.
Um den Kapitalabfluss aus Russland einzudämmen und wo möglich auch zu stoppen, schlug die Zentralbank vor, eine Finanzpolizei aus der Taufe zu heben und sie mit weit reichenden Kontrollfunktionen auszustatten. Dagegen meinte Putins liberaler Wirtschaftsberater Andrej Illarionow, dass der Kapitalabfluss ein Mythos sei. "Dieses Problem ist nicht vorhanden, es gibt nur das Problem einer nicht adäquaten Geldpolitik", sagte Illarionow.
Der Vorsitzende der russischen Statistikbehörde, Wladimir Sokolin, sprach sich für eine umfassende Kapital-Amnestie in Russland aus. "Die Ukraine hat das bereits getan. Ich denke, dass auch Russland diesen Weg gehen soll, weil russisches Kapital ansonsten in der Ukraine landen würde", sagte er der Moskauer Zeitung "Iswestija".
Die am 29. Juni vom Kabinett gebilligten Grundlinien der ökonomischen Entwicklung Russlands bis 2010 sehen vor, den Kapitalabfluss in diesen zehn Jahren zu halbieren. Zudem sollen die Währungsreserven Russlands gemäß dem Dokument kontinuierlich steigen: 2000 auf 19,1 Mrd., 2004 auf 39,1 Mrd. und 2010 auf 52,4 Mrd. Dollar.