Zum Hauptinhalt springen

Kapitalismus mit Vorbehalten

Von Martyna Czarnowska

Europaarchiv

Wien/Prag - Das tschechische Referendum über den EU-Beitritt am 14./15. Juni wird die erste Volksabstimmung in der Geschichte des Landes sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Mehrheit der Wahlberechtigten mit "Ja" stimmt, ist groß: Laut Umfragen sprechen sich über 60 Prozent für einen Beitritt zur Union aus. Dieser hätte nach Ansicht des Historikers Miroslav Kunstat besondere Bedeutung: Er würde "eine Etappe des Transformationsprozesses definitiv abschließen".


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 22 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Es ist ja nicht so, dass sich erst jetzt was tut. Seit Jahren befinden sich die Länder Ost- und Mitteleuropas in einem Umgestaltungsprozess, der nicht nur Wirtschaft sondern auch Einstellungen betrifft. So ist laut einer Studie des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) die Produktivität seit 1995 um durchschnittlich fast zehn Prozent gewachsen - etwa vier mal so schnell wie in der EU. In Prag liege das Einkommen nach Kaufkraftparitäten sogar höher als in Kärnten, wobei es allerdings auch in Tschechien große regionale Unterschiede im Vergleich zu EU-Staaten gebe.

Ein Beitritt zur Europäischen Union könne auf diesem Weg vielen nur als logische Konsequenz erscheinen, deutet Miroslav Kunstat von der Prager Karls-Universität an. "Die tschechische Öffentlichkeit betrachtet den Beitritt als Versiegelung einer der letzten Phasen des Transformationsprozesses", meint er. "Dadurch wird eine Etappe definitiv abgeschlossen."

Dass die meisten TschechInnen dies befürworten, geht aus aktuellen Umfragen hervor. Demnach sind 61 Prozent für eine EU-Mitgliedschaft und 17 Prozent dagegen. Dennoch betont Kunstat die Bedeutung der Werbekampagne, die die Regierung vor kurzem gestartet hat. "Wir müssen jetzt nicht nur Vorteile sondern auch Nachteile des EU-Beitritts darlegen", erklärt er. Letztere würden bereits diskutiert - dafür sorge schon die euroskeptische Opposition, die im Parlament der proeuropäischen Regierungskoalition gegenüber steht. Nicht zuletzt der Opposition sei es laut Kunstat "zu verdanken", dass auch die Schattenseiten des EU-Beitritts zur Sprache kommen mussten.

Denn Gründe, verunsichert zu sein, finden sich etliche. "Die Leute wollen wissen, wie werden sich die Preise entwickeln, was bringt uns die Einführung des Euro, welche Rolle spielt Tschechien in der gemeinsamen Sicherheitspolitik?" zählt Kunstat auf. Diese Fragen werden allerdings nicht immer beantwortet; und mittlerweile stößt die Werbekampagne in Tschechien auch auf Kritik.

Dazu äußert sich Nora Dolanska von der staatlichen Tschechischen Zentrale für Tourismus (CTA) nicht - hat doch die CTA eine eigene Kampagne laufen, die das Land bewerben soll. Die Stimmung in der Bevölkerung bewertet auch Dolanska als überwiegend positiv gegenüber der EU. Das sei nicht immer so gewesen. "Die Einstellung schwankte von neutraler Position über eine ablehnende Etappe vor drei, vier Jahren bis zur jetzigen Akzeptanz", erläutert sie. Allerdings könnten mit dem Gedanken an die Euro-Einführung wieder Ängste vor einer Verteuerung kommen, fügt sie hinzu.

Ändern müsste sich ihrer Meinung nach auch eine andere Einstellung: die zur Arbeit. Dolanska ortet nämlich bei etlichen TschechInnen noch Reste der alten "laisser-faire"-Mentalität: "Wir hätten gerne kapitalistisches Niveau, würden aber lieber sozialistisch arbeiten."

Diese Einschätzung bestätigt weder die WIIW-Studie, noch teil sie der Historiker Kunstat. "Es hat sich schon viel verändert", sagt er: "Vor allem bei jungen Menschen."