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Karadzic boykottiert Prozess

Von Michael Schmölzer

Europaarchiv

Richter drohen mit zwangsweiser Vorführung. | Mittäter Ratko Mladic weiterhin flüchtig. | Den Haag. Radovan Karadzic will nicht. Der wegen Völkermordes angeklagte ehemalige bosnische Serbenführer hat erklärt, dass er unter keinen Umständen vor den Richtern erscheinen wird. Grund: Man habe ihm nicht genug Zeit gegeben, um sich auf seine Verteidigung vorzubereiten.


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Die Ankläger des Haager Strafgerichtshofes lässt die Boykottdrohung des störrischen Serben kalt. Man habe Karadzic ausreichend Zeit eingeräumt, außerdem könne der Prozess am Montag in seiner Abwesenheit eröffnet werden, heißt es dort. Überdies bestehe die Möglichkeit, den in Haft Sitzenden künftig einfach vorführen zu lassen. Man werde dem mutmaßlichen Kriegsverbrecher jedenfalls nicht die Gelegenheit einräumen, Einfluss auf den Ablauf des Verfahrens zu nehmen. Der Strafrechtsprofessor Alexander Knoops geht davon aus, dass es Karadzic trotzdem gelingen könnte, den Prozess zu verzögern.

Srebrenica-Massaker

Ob sich die Türen des Gerichtssaals nun am Montag 9 Uhr tatsächlich öffnen, ob der Prozess in Abwesenheit des Angeklagten, mit einem zwangsweise Vorgeführten oder vorerst gar nicht beginnt: In dem Gerichtsverfahren werden einige der dunkelsten Kapitel des Bosnien-Krieges 1992 bis 1995 eröffnet; etwa der blutige, 44 Monate anhaltende Granatbeschuss von Sarajevo. Oder das Massaker in Srebrenica. Zwei der elf Anklagepunkte beziehen sich auf Völkermord, die anderen auf Verschwörung zum Völkermord sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Höchstwahrscheinlich wird im Karadzic-Prozess auch die Frage der Verwicklung Serbiens in die Kriegsgräuel aufgeworfen werden. In Belgrad bestreiten 14 Jahre nach dem Krieg nur sehr wenige, dass sich Serben schwerster Verbrechen schuldig gemacht haben. Mit dem wahren Ausmaß des Übels und der Gräueltaten wagt sich öffentlich aber weiterhin kaum jemand zu befassen.

Die Hinrichtungen von Srebrenica gelten als das schlimmste Massaker in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. In der Gegend des ostbosnischen Ortes wurden im Juli 1995 über 7000 Bosniaken - vor allem Männer und Jungen zwischen 12 und 77 Jahren - getötet. Das Massaker wurde unter der Führung von Karadzics Militärchef, Ratko Mladic, von serbischen Armeeangehörigen, Polizisten und serbischen Paramilitärs verübt - Ex-General Mladic ist immer noch auf der Flucht. Das Gemetzel zog sich über mehrere Tage hin, tausende Leichen verscharrte man in Massengräbern um Srebrenica, die Gebeine werden erst allmählich entdeckt und auf Friedhöfen beerdigt. Abgeschlossene Prozesse vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal haben gezeigt, dass die Verbrechen nicht spontan erfolgten, sondern systematisch geplant und durchgeführt wurden. Die Verantwortung für die "ethnischen Säuberungen" trug der bosnische Serbenführer Karadzic.

Verteidigen will sich Karadzic, ganz nach dem Vorbild seines politischen Ziehvaters Slobodan Milosevic, selbst. Im Hintergrund wird er allerdings von einem Juristen-Team beraten, allen voran der US-Anwalt Peter Robinson. Robinson kennt sich im Haager Gericht gut aus. Er hat die Verteidigung des jugoslawischen Ex-Generalstabschefs Dragoljub Ojdanic übernommen. Ojdanic wurde im Frühjahr zu 15 Jahren Haft verurteilt. Andere Mitglieder des Beraterteams konnten Erfahrungen im Prozess gegen Slobodan Milosevic sammeln.

Die Argumentationslinie des Angeklagten selbst wirkt allerdings noch etwas wirr: Das UN-Tribunal sei nicht so "fair" wie 1933 der Prozess um den Brand des deutschen Reichstages, so eine Begründung Karadzic, warum er das Verfahren boykottiere.

Psychiater und Tito-Fan

Der Lebensweg Karadzics ist von Widersprüchen gekennzeichnet. Geboren wurde er 1945 in Montenegro, in seiner Jugend war er treuer Anhänger des Kommunisten und Staatsgründers Josip Broz Tito, dem er in den 70er Jahren eines seiner Gedichte widmete. Nach Abschluss des Studiums arbeitete er als Psychiater in einem städtischen Krankenhaus in Sarajevo, bevor er 1983 die Mannschaft des Fußballclubs Roter Stern Belgrad psychologisch betreute.

In die Politik ging Karadzic Ende 1989, als er die nationalistische Serbische Demokratische Partei gründete und im Juli 1990 ihren Vorsitz übernahm. Nach der Unabhängigkeitserklärung Bosnien-Herzegowinas im April 1992 organisierte Karadzic den gnadenlosen Feldzug gegen Nicht-Serben im einstigen Vielvölkerstaat Bosnien. Knapp vor seiner Ergreifung 2008 war er, durch einen langen Bart unkenntlich, als Heilpraktiker tätig. Karadzic hat mehrere Romane und Gedichtsammlungen verfasst, aber auch ein Kinderbuch herausgegeben.