Der österreichische Friedensforscher Karl Kumpfmüller sieht zwar Fortschritte in der Friedenserziehung, hält aber die akademische Forschung auf diesem Gebiet für ebenso krisenanfällig wie die gegenwärtige Form der repräsentativen Demokratie.
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"Wiener Zeitung":
Bei einer Demonstration gegen FPÖ-Chef Strache an der Uni Graz waren Sie in eine Auseinandersetzung mit einem Polizisten involviert. Ist Österreich eigentlich ein friedliches Land?Karl Kumpfmüller: Natürlich ist Österreich jetzt ein friedliches Land, und im Vergleich zum 19. Jahrhundert, den Ereignissen von 1848, der Zwischenkriegszeit und der Nazi-Zeit gibt es keine nennenswerte Gewalt im öffentlichen Raum und keine wirklich gefährliche Stadt. Wir haben in Graz mit dem deutschen Friedensforscher Reiner Steinweg Anfang der 90er Jahre in einer Studie alle Gewaltereignisse in einem Jahr in der Stadt, an Schulen, unter Jugendlichen usw. untersucht. Herausgekommen ist, dass die meisten Fälle von bürokratischen Strukturen ausgehen sowie durch einschüchternde, willkürliche Polizeigewalt vor allem gegenüber Jugendlichen. Das hat man auch bei der von Ihnen erwähnten Demo gesehen, wo gleich mehrere Polizisten auf einem am Boden liegenden Demonstranten knieten. Daraufhin habe ich einem der Polizisten von hinten mit dem Zeigefinger auf die Schulter getippt und ihm zugerufen: "Keine Gewalt!". Daraufhin wollte er mich festnehmen. Zum Glück waren auch Journalisten dabei, die das gesehen hatten. Aber insgesamt ist die Gewalt stark zurückgegangen.
Worauf führen Sie das zurück?Ich führe das auf das Ende der "Schwarzen Pädagogik" und auf die Friedenserziehung zurück. Ich selbst habe bisher über 5000 Lehrer und Lehrerinnen auf diesem Gebiet ausgebildet. Dabei geht es auch um die Sensibilisierung, was Gewalt ist - also auch verbale Gewalt. Wir bräuchten mehr Friedenserziehung in den Schulen, gemeinsam mit den Eltern, aber in Österreich werden die Mittel für die Erwachsenenbildung gekürzt - und fließen in die Parteiakademien.
Stimmen, die eine Art Elternschule fordern, werden immer lauter. Wie könnte eine solche aussehen?
Man muss die Eltern stärker in den Schulen einbinden, nicht als Beruhigungstherapie, sondern im Sinne von Krisenmanagement. Etwa wenn es Probleme mit Drogen gibt. Leider sind unsere zentral verwalteten Schulen überfordert. Wir bräuchten in großen Schulen eigene Untereinheiten, die selbstständig arbeiten dürfen. In Schweden und auch in Belgien gibt es kollegial geführte Schulen im öffentlichen Bereich. Aber in Österreich haben wir noch ein obrigkeitsorganisiertes Schulsystem aus der Monarchie, das immer nur teilreformiert wurde.
Sie sind als Friedensforscher an mehreren Unis und in der Erwachsenenbildung tätig, sie haben u.a. das Friedenszentrum in Stadtschlaining und das Friedensbüro in Graz aufgebaut. Wie erklärt sich Ihr pazifistisches Engagement?
Ich selbst war von den Eindrücken des Nazi-Regimes geschockt! 1963 habe ich im deutschen Fernsehen an vier Samstag-Nachmittagen eine Dokumentation über das NS-Regime gesehen. Und als ich deshalb mit 18 Jahren den Wehrdienst verweigert habe, hat mich der Moloch Staat unter der Androhung einer lebenslangen Gefängnisstrafe zum Dienst an der Waffe zwingen wollen.
Den Vorläufer des heutigen Zivildienstes haben Sie ebenfalls mitinitiiert.
Das war gemeinsam mit Peter Trummer, der später an der Katholischen Fakultät in Graz über das Neue Testament lehrte. Wir wollten ein Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen durchsetzen und haben dazu einen Antrag bei der katholischen Kirche in Graz eingebracht. Nach heftigen Diskussionen hat der Diözesanrat Graz-Seckau den Antrag auf einen alternativen "zivilen Friedensdienst" in Österreich und eine erste österreichische "Beratungsstelle für Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen" im Juni 1971 tatsächlich beschlossen.
Aber warum haben Sie den "Umweg" über die katholische Kirche genommen?
Wichtig war, dass eine hohe gesellschaftliche Instanz wie die katholische Kirche den Zivildienst als legitime und legale Form anerkennt, um den Dienst an der Gemeinschaft zu erfüllen; Wehrdienstverweigerer sind ja keine Drückeberger, sondern sie wollen einen anderen Dienst an der Gemeinschaft leisten. Durch diesen Beschluss sollte die sozialdemokratische Partei von Bruno Kreisky unter Druck geraten, damit auch sie sich zur Gewissensfreiheit bekennt.
Das war vor mehr als 40 Jahren, inmitten des Kalten Krieges, und es gab noch die Berliner Mauer und den Eisernen Vorhang. Wie war es also möglich, dass Ihre Initiative durchging?
Erstens hatte bereits Deutschland, ein NATO-Mitglied, 1961 einen Zivildienst eingeführt. Zweitens war dieser in Österreich eine Chance für eine liberale Gesellschaft, wie sie Kreisky wollte. Drittens förderte das die Auseinandersetzung mit der NS-Gesellschaft. 1971 kam ja auch Axel Cortis Film "Der Fall Jägerstätter" heraus: Jägerstätter, der als junger, engagierter Katholik im NS-Regime den Wehrdienst verweigerte, war ein lupenreiner Fall von Pazifismus.
Wie viel gottgläubige Überzeugung ist für ein pazifistisches, ethisches Leben notwendig?
Ethisches Verhalten ohne Religion ist sehr wohl möglich! Die Geschichte des Pazifismus hat keinen überwiegend religiösen Hintergrund, ganz im Gegenteil: Der Pazifismus wurde gerade von der katholischen Kirche, von Rom, sträflich vernachlässigt, ja sogar bekämpft und ist nicht repräsentativ für diese Kirche. Einzige Ausnahme war in Österreich Kardinal König. In den 1980er Jahren hat die Debatte um die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen gezeigt, dass die Warnung vor einem kollektiven Nukleartod in Europa nicht von der Kirche gekommen ist, auch nicht von der Politik. Sondern es waren junge oppositionelle Kräfte aus der katholischen und evangelischen Jugend und junge Sozialisten, die sich an die Lehren des deutschen Politikwissenschafters Ekkehart Krippendorff (einem Pionier der deutschen Friedensforschung, Anm.) anlehnten.
Ich habe daher beim Aufbau und bei der Leitung der Österreichischen Friedensbewegung, des Europahauses Burgenland und später des Österreichischen Institutes für Friedensforschung und Friedenserziehung auf Burg Schlaining immer eine vermittelnde Position eingenommen. Für mich wurde dabei deutlich, dass wir keine wissenschaftliche Institution wie in Skandinavien oder Deutschland haben, um objektivierbare Aussagen zu treffen. Friedensforschung muss immer überparteilich, ohne jede ideologische Kontrolle sein. Da muss sich jeder fragen: Wie hast du’s selbst mit der Gewalt gehalten? Und die Kirche hat ihre Geschichte mit zu viel Blut geschrieben!
Woher nimmt jemand, der nicht religiös ist, seine ethischen Grundsätze?
Aus meiner Sicht gibt es zwei Zugänge: Erstens eine frühkindliche und jugendliche gewaltfreie Erziehung, die entweder stark humanitär geprägt ist, oder auf Frühformen des Protestantismus, der stark politisch geprägt ist, wie etwa die Wiedertäufer zurückgreift. Das liegt in der Ur-Natur der Protestanten, die sich früh befreit haben. Der zweite Zugang zu Ethik ist ein grundsätzlich humanistischer . . .
Was verstehen Sie darunter?
Eine aus der Europäischen Aufklärung und damit aus der jüdischen, liberalen, sozialdemokratischen und kommunistischen Bewegung stammende Tradition. Aus ihrer Minderheitenposition heraus haben diese Gruppierungen erfahren, dass ihr Pazifismus durch den Austrofaschismus eliminiert hätte werden sollen. Mein Großonkel Carl Dopf war ein anarchistischer Schriftsteller: Er wurde, obwohl er einem katholischen Umfeld in Oberösterreich entstammte, im Ersten Weltkrieg zu einem führenden Sozialisten, glühenden Pazifisten und leidenschaftlichen Anarchisten in Hamburg, gewissermaßen im Schatten der Arbeiterbewegung.
Damit sind Sie also erblich vorbelastet?
Ich wusste gar nichts von ihm, mein Vater wollte das verhindern. Erst als ich im Fernsehen in den 1980er Jahren einen Bericht über ihn sah, erfuhr ich davon und dachte: "Das kann jetzt aber nicht dieselbe Person sein". Ich selbst wurde sehr katholisch erzogen. In meiner Familie ist auch nicht über das NS-Regime geredet worden. Zum Pazifismus bin ich ganz von alleine gekommen.
Ist das Thema heute noch interessant, und zwar für die Bevölkerung ebenso wie für das akademische Publikum?
Ich wollte die Friedensforschung auf Burg Schlaining nach skandinavischem Vorbild institutionalisieren. Das haben Bruno Kreisky und Heinz Fischer (als Wissenschaftsminister, Anm.) auch sehr gefördert. Bis das Friedensinstitut, nach der Eröffnung 1982, die erste Studie präsentieren wollte: "Waffenexporte neutraler Staaten". Diese Studie ist bis heute unveröffentlicht, aufgrund eines Verbots des der SPÖ zugehörigen Institutsvorstands Gerald Mader. Das hat mich so enttäuscht, dass der Kreisky’sche Liberalismus offenbar doch nicht vorhanden ist. Und heute wird das Friedensinstitut von zwei Lokalpolitikern geleitet, ohne große internationale Bezüge. Ich hatte es als freies, wissenschaftliches Institut konzipiert und begründet - die Innenpolitik hat in einem internationalen Friedensinstitut nichts verloren!
Den parteipolitischen Einfluss zurückzunehmen, damit tut man sich in Österreich offenbar schwer, siehe auch ORF.
Damit tut man sich in Österreich besonders schwer! Doch im Gegensatz dazu hat mir der damalige Bürgermeister Alfred Stingl (SP) das Angebot gemacht, 1988 in Graz ein Friedensbüro zu gründen. Er und Kulturstadtrat Helmut Strobl (ÖVP) waren echte Garanten für dessen Unabhängigkeit, und das Projekt hat 18 Jahre ungestört funktioniert. Aber Siegfried Nagl (seit 2003 VP-Bürgermeister, Anm.) hat wieder alles zunichte gemacht - er wollte nicht, dass unser Büro internationale Friedensarbeit und Konfliktprävention in kritischer Distanz zur katholischen Kirche betreibt.
Und wie sieht es heute mit der institutionalisierten Friedensforschung aus?
Die europäische Friedensforschung ist in einer Krise! Entstanden ist sie nach den zwei großen Katastrophen, also dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Die Angst vor einer nuklearen Bedrohung ist in den 1990er Jahren jedoch geschwunden, und die Friedensforschung hat sich neue Felder gesucht. Sie hat aber weder die Revolution im Osten, noch die Situation in Jugoslawien oder die arabische Revolution erkannt. Letztendlich ist sie in einer Kasuistik von Einzelereignissen wie den Kriegen in Vietnam oder Tschetschenien steckengeblieben. Und viele NGOs haben der klassischen Friedensforschung mittlerweile den Rang abgelaufen. Wir haben in Europa heute rund 2000 NGOs, die sich mit Friedensarbeit befassen.
Das könnte man ja auch als Erfolg werten und Friedensarbeit als im Mainstream angekommen sehen.
Da haben Sie Recht. Nur: Man muss unterscheiden zwischen Friedensarbeit und Friedensforschung. Die Friedensarbeit ist sehr beliebt, in den letzten 20 Jahren gab es ein großes Engagement im humanitären Bereich, wir haben in Österreich einen eigenen Friedensdienst und den Gedenkdienst als Zivildienst. Aber die institutionelle Friedensforschung ist in der Krise.
Dennoch haben Sie in Graz den ersten Master-Lehrgang in "Global Studies" initiiert. Inwieweit lässt sich Globalisierung überhaupt eingrenzen und beforschen?
Die Unis tendieren seit Jahrzehnten dazu, sich immer mehr zu spezialisieren, umso notwendiger ist es, das globale Ganze zu sehen. Ein Klimaexperte muss wissen, welche globalen politischen und ökonomischen Konditionen es für Klimaschutzstrategien gibt. Dieser zusammenführende Lehrgang ist daher die akademische Antwort auf die Globalisierungsdiskussion. Wir müssen den österreichischen Studierenden internationales Denken vermitteln. Wir müssen auch weg vom nationalen Geschichtsunterricht, wir sollten zunächst in Weltgeschichte ausbilden und induktiv wieder zu unserer eigenen Geschichte zurückkommen.
Das würde eine größere Bildungsreform erfordern.
Wir brauchen eine Bildungsrevolution von der Volksschule bis zu den Unis! Vor dem Hintergrund wachsender Migrationsströme müssen wir auch in der Erziehung auf die internationale Mobilität Rücksicht nehmen. Ich selbst war in über hundert Ländern unterwegs und habe erlebt, dass Menschen überhaupt nicht unterschiedlich sind, weder in ihrer Genetik, noch in ihren Empfindungen und Bedürfnissen. Dass es Menschen auf mehreren Kontinenten gibt, mit denen uns viel mehr verbindet als unterscheidet, begreifen heute Kinder schon im Vorschulalter. Darum glaube ich, dass wir die Lehrpläne völlig auf den Kopf stellen müssen.
Aber ist die Gesellschaft schon soweit?
Die Gesellschaft ist soweit! Wir werden in den tagtäglichen Themen im Fernsehen damit konfrontiert. Wer nicht soweit ist, ist die politische Klasse. Wir haben in der derzeitigen Demokratie eine Repräsentation von Mächten und Gruppen, die von Partikularinteressen bestimmt ist, daher kommen sie nie zu gemeinsamen, schon gar nicht zu globalen Lösungen. Dass enorme Summen in die Finanzspekulation geflossen sind, ist auf politisches Versagen zurückzuführen. Bereits vor 15 Jahren habe ich meine Vorlesung "Ökonomie der Entwicklungsländer" umbenannt in "Internationales Finanzsystem und Verschuldung". Wir sind einerseits unglaublich reich, andererseits verschulden wir uns dennoch über jedes kontrollierbare Maß auf Kosten der nachfolgenden Generationen. Ich fürchte daher, dass uns heftige Konflikte bevorstehen, und es wird schwer sein, die wütenden Massen von der Ethik der Gewaltfreiheit zu überzeugen.
Das sind pessimistische Aussichten.
Es bilden sich bereits überparteiliche Bewegungen, da wird’s eine Revolution geben. Denn die politische Kontrolle funktioniert nicht. Es muss Formen der unmittelbaren Demokratie geben, der oberste Souverän, das Volk, muss die Kontrolle haben. Gut hundert Jahre nach Einführung des Parlamentarismus brauchen wir eine noch viel stärkere Trennung der Gewalten. Wir müssen die Korruption stärker bekämpfen.
Ist die wahre Gefahr heutzutage die Gier?
Gier ist zu moralisierend. Ich würde differenzieren und sagen, es ist der absolut entfesselte, unkontrollierte Kapitalismus, also dass Geldwerte viel höher bewertet werden als Sozialwerte wie Verteilungsgerechtigkeit. Das hat sich jetzt in vielen Ländern gezeigt. Es ist ein Spiegel der Korrumpierbarkeit von repräsentativer Demokratie. Wenn man sieht, wie Steuergesetze gemacht wurden, muss man sagen, dass der Anspruch der Politik - "Wir sind die Repräsentanten des Volkes" - nicht eingelöst worden ist.
Wie lassen sich in der Bevölkerung die Erkenntnisse aus der Friedens- und Entwicklungsforschung umsetzen?
Der einzige Zugang ist der über die Kinder, indem man "globales Lernen" zu einem Unterrichtsprinzip macht. Kinder sind sehr zugänglich für Nicht-Diskriminierung; den Rassismus erzeugen wir Erwachsene. Interkulturelles Lernen muss also zum Zukunftsprogramm werden.
Heike Hausensteiner war von 1996 bis 2005 Politik-Redakteurin bei der "Wiener Zeitung", danach u.a. Chefredakteurin des Monatsmagazins "european - was uns verbindet" und schreibt jetzt für österreichische und deutsche Medien.
Zur Person<br style="font-weight: bold;" /> <br style="font-weight: bold;" /> Karl Kumpfmüller arbeitet als Friedens- und Entwicklungsforscher sowie Erwachsenenbildner. An der Karl-Franzens-Universität Graz ist er Universitäts-Lektor für Entwicklungsökonomie und Entwicklungspolitik sowie für Global Studies und Umwelt-Systemwissenschaften. Er hat Gastvorträge an vielen österreichischen und europäischen Universitäten sowie in den USA und Hongkong gehalten. Er studierte u.a. Rechtswissenschaften, Wirtschaftswissenschaften, Psychologie sowie Internationale Beziehungen an den Unis Graz, Edinburgh, Montpellier, Krakau und an der "School for Advanced International Studies" der Johns Hopkins University in Washington. Kumpfmüller ist Initiator des Master-Lehrganges "Global Studies", der im Vorjahr an der Grazer Uni startete.
Ebenfalls initiiert und geleitet hat Kumpfmüller seit den 1970er Jahren den Österreichischen Informationsdienst für Entwicklungspolitik (heute "Südwind-Agentur"), das Österreichische Institut für Friedensforschung und Friedenserziehung in Stadtschlaining, das Grazer Büro für Frieden und Entwicklung, den Österreichischen Friedensdienst sowie das Projekt "Interreligiöses Europa".