Der deutsche Historiker Karl Schlögel denkt über Europas Ostgrenzen nach, erklärt die Bedeutung von Räumen für den Geschichtsverlauf, lobt Österreichs Rolle in Mitteleuropa und untersucht die Spätfolgen des Kalten Kriegs.
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Wiener Zeitung: Herr Schlögel, wo verläuft die Ostgrenze Europas? Karl Schlögel: Das ist eine geradezu klassische Eingangsfrage, auf die ich eine ganz konventionelle Antwort geben möchte: Ich halte mich an die Uralgrenze. Ich weiß schon, dass der Ural keine natürliche Grenze ist, sondern nur ein Mittelgebirge, das man leicht überschreiten kann. Ich denke aber trotzdem, dass diese Grenze eine sinnvolle Festlegung ist, weil Russland tatsächlich sowohl in Europa als auch in Asien liegt. Wer Russland verstehen will, muss Europäisch-Russland von Asiatisch-Russland unterscheiden. Moskau ist eine europäische Stadt, Wladiwostok dagegen ist zwar die Gründung einer europäischen Macht, liegt aber nicht in Europa. Das ist vergleichbar mit San Francisco, das zwar von Europäern gegründet wurde, aber trotzdem nicht in Europa liegt.
Und wie sieht die Grenzziehung in der Türkei aus?
Da haben wir dasselbe Problem. Für mich liegt die Türkei als Ganzes nicht in Europa. Istanbul ist sehr wohl eine europäische Stadt, doch ich hätte große Schwierigkeiten, Diyarbakir als Stadt in Europa zu bezeichnen.
Aber eigentlich rede ich über diese Grenzfragen nicht gern. Dabei kommt immer etwas Hierarchisierendes und Abstufendes ins Spiel, das ich sehr fragwürdig finde.
Also: Europa gut - Asien schlecht?
Ja, genau. Das ist der falsche Geist des alten Eurozentrismus.
Die Frage nach Europas Grenzen ist aber zurzeit doch von Bedeutung, weil die gesamte europäische Ordnung unklar ist. Gewiss gibt es die Europäische Union, aber man weiß, dass der Kontinent mit den Grenzen und Wertvorstellungen der EU nicht identisch ist.
Da ist eben vieles im Fluss, und in solchen Situationen ist es immer bequem, wenn man eine scheinbar klare Definition gibt: Europa ist überall dort, wo die europäischen Werte gelten. Solche Definitionen scheinen über einige Unsicherheiten hinwegzuhelfen, aber sie stimmen eben nicht. Wenn man Europa nur durch positive Werte definiert - Humanismus, Renaissance, Aufklärung, Demokratie -, dann haben große Teile dessen, was wir als Europa bezeichnen, in bestimmten Zeiträumen gar nicht dazugehört. Europa ist ja nicht nur von Immanuel Kant geprägt worden, sondern auch von Adolf Hitler, zu Europa gehören sowohl Walter Benjamin als auch Heinrich Himmler, Dostojewski und Puschkin ebenso wie Stalin. Ich will damit sagen, Europa ist vor allem ein Schauplatz, auf dem sich komplizierte, und von vielen Zufällen bestimmte Entwicklungen ereignet haben.
Das ist aber leider keine sehr handliche Definition . . .
Ich bin immer etwas hilflos bei diesen Europadiskussionen, die damit anfangen, dass jemand sagt: "Europa ist nicht nur Geographie, sondern auch . . ." Ich meine, Europa ist ein historisches Gebilde. Und wer davon spricht, muss auch von dem Schauplatz sprechen, auf dem sich all das abgespielt hat, was zur Entstehung dieses Gebildes geführt hat.
Damit sind wir beim großen Thema all Ihrer Arbeiten: Sie weisen immer wieder darauf hin, dass Geschichte ihre Schauplätze und Räume hat. Warum ist Ihnen diese Thematik so wichtig?
Die Frage nach den Räumen ist ganz elementar und nahe liegend, und die europäischen Veränderungen des Jahres 1989 haben sie uns wieder deutlich ins Bewusstsein gerufen. Die Aufhebung der politischen Grenze zwischen West- und Osteuropa hat den gesamten Horizont verschoben. Das hat mich dazu veranlasst, über die Bedeutung der Räume aufs Neue nachzudenken.
Raumfragen waren lange Zeit kein prominentes Thema der Geschichtswissenschaft . . .
Das stimmt, wir hatten sie in gewisser Weise vergessen. Die Nachkriegszeit und das ausgehende 20. Jahrhundert waren eine Epoche unglaublicher Beschleunigung. Aber wir verfügen trotzdem nicht restlos über die Erde und über die Zeit. Gewiss, wir können unsere Bewegungen beschleunigen, wir können Distanzen verkürzen, aber wir können sie nicht aufheben.
Als vor kurzem der gesamte europäische Flugverkehr durch die Asche eines isländischen Vulkans lahmgelegt wurde, da konnte man wieder einmal erfahren, wie schnell die hochgezüchtete Mobilität, in der wir uns bewegen, zum Stillstand kommen kann. Plötzlich entstehen auf den High Tech-Flughäfen archaische Situationen wie in Flüchtlingslagern. Darauf ist niemand vorbereitet, und elementare Fertigkeiten wie Versorgung oder Heimkehr müssen neu erlernt werden. Im Leben einer jeden Generation gibt es ein paar solcher Schlüsselereignisse, durch die man an Grundfragen erinnert wird, über die man normalerweise nicht nachdenkt. Und ich meine eben, das Jahr 1989 war nicht nur eine politische Revolution, sondern auch eine Revolution des Raums: Europa hat sich neu konfiguriert.
Mit welchen Folgen?
Zum Beispiel haben viele, die sich vorher nur im westlichen Orbit bewegt haben, damit begonnen, sich in einem anderen Orbit umzusehen. Und die Generation, die nach uns kommt, wächst bereits in einem ganz anderen Koordinatensystem auf. Wer heute jung ist, kennt die Situation der geteilten Stadt Berlin, der unterschiedlichen Lebensrhythmen gar nicht mehr.
Sie haben immer wieder auf die große Bedeutung der Städte in diesem Veränderungsprozess hingewiesen. Prag, Krakau, Lemberg und St. Petersburg sind in Ihren Augen ebenso bedeutende europäische Zentren wie Paris, London oder Berlin. Ist diese Erkenntnis schon überall im Westen angekommen?
Nein, überall noch nicht. Aber ich hatte auch nicht gedacht, dass das von heute auf morgen geschehen würde. Neue Erfahrungswelten bauen sich im Rhythmus von Generationen auf. Leute wie ich, die aus beruflichen oder familiären Gründen schon immer ein spezielles Interesse an Osteuropa hatten, erleben heute mit einigem Vergnügen, dass aufgeweckte, intelligente Menschen sagen: "Ich war gerade das erste Mal in Krakau, das ist ja eine unglaublich interessante Stadt!" Sie kannten Mantua und Bologna und sind jetzt überrascht, dass es in ihrer Nähe vergleichbare Städte gibt, von denen sie nichts ahnten.
Das ist in Österreich wohl etwas anders als in Deutschland. Hier gibt es schon länger ein starkes Interesse an Osteuropa. Es könnte allerdings sein, dass die Gründe dafür hauptsächlich nostalgischer Natur sind. Viele Österreicher fahren nach Lemberg, um die Spuren Altösterreichs zu finden, und übersehen dabei, dass sich dort auch sehr viel sowjetische Relikte erhalten haben.
Das mag schon sein, aber es ist ja nicht verwerflich, dass man zunächst an dem anknüpft, was man aus der eigenen Geschichte, vielleicht sogar aus der Familiengeschichte kennt. Natürlich darf man nach Galizien fahren, weil die Familie von dort stammt oder weil der Vater im Krieg dort war. Es ist ganz normal, dass man in solchen Spuren geht. Die Frage ist allenfalls, ob man weiter kommt und beginnt, sich auch für andere Aspekte der Geschichte zu interessieren. Aber ich bin da eigentlich optimistisch. Es braucht nur alles seine Zeit. Es wird ja auch immer gesagt, diese Billigfluglinien, die Touristen nach Riga und nach Vilnius bringen, seien von Übel. Ich sehe das nicht so. Selbst wenn Leute nur für ein Wochenende dorthin fliegen, und ganz gewiss nicht aus kulturgeschichtlichem Interesse, taucht für sie doch eine neue Welt auf, die ihnen früher nicht zugänglich war. Das wird nicht gleich zu einer völligen Umwälzung im Gehirn führen, aber es tut sich doch etwas. Ich setze eigentlich sehr auf solche molekularen Vorgänge.
Was Österreich angeht, möchte ich noch sagen, dass man dort ja schon vor 1989 gewusst hat, dass in Osteuropa ein kultureller Kontinent existiert, der die NS-Zeit, den Zweiten Weltkrieg und die lange Isolation durch den Eisernen Vorhang überlebt hat. Und seit 1989 reisen ja auch sehr viele osteuropäische Touristen nach Wien, und finden so einen Teil ihrer eigenen Geschichte wieder. Das ist ganz anders als in Berlin, weil Wien einmal die Hauptstadt eines Vielvölkerreiches gewesen ist.
Aus diesem Grund gab es in den letzten beiden Jahrzehnten auch mehrere Versuche, eine politisch-kulturelle Führungsposition für Österreich in Mitteleuropa zu definieren.
Österreich war immer durch tausend Fäden mit der Welt des Ostens verbunden und spielt deshalb heute eine wichtige Rolle im Prozess der europäischen Veränderung. Allerdings sollte man nicht erwarten, dass daraus so etwas wie eine politische Konföderation der mitteleuropäischen Staaten hervorgeht. Das hatten auch nur die wenigsten Mitteleuropa-Programmatiker im Sinn. Es ging und geht stattdessen um das Innewerden eines kulturellen Zusammenhangs und eines gemeinsamen historischen Erinnerungsraums. In diesem Zusammengang fand ich die Initiativen, die von Erhard Busek und anderen österreichischen Politikern ausgegangen sind, sehr gut und interessant. Sie haben dazu beigetragen, dass sich die dichotomischen Vereinfachungen des Kalten Krieges aufgelöst haben.
"Dichotomisch" heißt "zweigeteilt". Wie tief ging denn die Zweiteilung des Kalten Krieges?
Unglaublich tief. Sie hat auf beiden Seiten die geistige Ökonomie mehrerer Generation bestimmt. Das zeigte sich vor allem daran, dass immer nur im Schema "entweder - oder" gedacht wurde. Es wurde eine Unterscheidung zwischen den Reinen und den Unreinen, zwischen dem Wahren und dem Falschen getroffen. Und darüber ging das Interesse an den Grauzonen vollständig verloren. Es durfte weder Verwischungen noch Vermischungen geben. Ich glaube, dass gewisse Langzeitfolgen dieser scharfen Oppositionsstellung noch lange spürbar sein werden.
In politischen Grundsatzdebatten lassen sich sehr viele Relikte der Kalten-Kriegs-Rhetorik erkennen - und zwar auf der rechten wie auf der linken Seite.
Die Erosion der alten "Lager"-Frontstellung hat eigentlich schon in den achtziger Jahren begonnen. Auch deshalb habe ich gedacht, dass nach 1989 eine befreiende Öffnung stattfinden könnte. Ich hätte mir gewünscht, dass alle einen Moment innehalten und sagen würden: "Jetzt ist etwas Neues passiert, jetzt gehen wir neu ans Werk". Aber zu den Langzeitfolgen des Kalten Kriegs gehört eben auch, dass die alten Fronstellungen noch nicht verschwunden sind. In Deutschland zum Beispiel kann weder die Geschichte der einen noch der anderen deutschen Republik spannungsfrei und sozusagen zwanglos erzählt werden. Da wird nach wie vor stets erst einmal gewertet: Hier waren die Guten, dort die Bösen, hier ist es gut gelaufen, dort schlecht.
Es wäre schöner, wenn man all das, was passiert ist, in einem epischen Ton erzählen könnte. Aber auch das braucht seine Zeit. Noch sind die beiden "Lager" da, noch gibt es das Bedürfnis nach Revanche und Retourkutschen, man spielt das langweilige Spiel der Besserwisserei, wo es doch eigentlich sinnvoller wäre, gemeinsam über die neue Lage nachzudenken.
Tatsächlich ist es doch wohl so, dass die Anhänger des Sozialismus in der öffentlichen Debatte ihre Niederlage eingestehen müssen, während die Verfechter des Kapitalismus einen Sieg auf der ganzen Linie feiern können.
Nein, ganz so ist das nicht! Die Geschichte ist ja 1989 nicht zu Ende gegangen. Man erfasst die Veränderung der Gesamtlage besser, wenn man ein neueres Datum dazu nimmt, nämlich die Wirtschaftskrise seit dem Herbst 2009. Mir fällt dazu der Ausdruck "Abwicklung West" ein, denn ich denke, spätestens jetzt wäre das Eingeständnis fällig, dass man im Westen nicht einfach so weitermachen kann wie bisher.
Ich glaube, dass zwischen 1989 und 2009 ein dynamischer Zusammenhang besteht: 1989 ist das Sowjet-System zusammengebrochen, das schwach und unhaltbar geworden war. Aber die Ereignisse des Jahres 1989 waren auch der Beginn jener Globalisierungswelle, die jetzt auch bei uns angekommen ist. Und deshalb gibt es weder für die einen noch für anderen Grund zur Rechthaberei. Eigentlich sind wir alle ratlos und müssen versuchen, die Lage neu zu bedenken.
Und wie beurteilen Sie die derzeitige Lage?
Ich habe mir schon im vergangenen Jahr gewünscht, dass Herr Ackermann, der Chef der "Deutschen Bank", und andere Kenner der Materie uns erklären, was geschehen ist. Aber es herrscht weitgehend betretenes Schweigen. Niemand kann uns vermitteln, was wirklich vor sich geht, wenn eine "Blase platzt" oder dergleichen. Das erinnert mich sehr stark an die Endzeit des Sozialismus im Jahr 1989. Ich kann es zwar nicht analytisch begründen, aber mich hat das plötzliche Auftreten von Obama an Gorbatschows Amtsantritt erinnert. Wie Michail Gorbatschow hat auch Barack Obama eine Sprache dafür gefunden, dass etwas zu Ende gegangen ist und dass etwas anderes anfangen muss.
Nun ist Gorbatschows Projekt ja gescheitert, er war eine Figur des Übergangs, oder, wenn man so will, ein Held des Rückzugs. Ein gleiches Schicksal kann auch Obama ereilen. Sein Versuch, die USA nicht mehr als die Weltmacht zu definieren, sondern als eine Großmacht unter mehreren, kann natürlich scheitern. Aber ich finde es schon großartig, dass Amerika einen solchen Präsidenten überhaupt gewählt hat. Es war ein beglückendes Erlebnis, zu sehen, wie die amerikanische Nation in einem sehr qualvollen Prozess einen Kandidaten hervorgebracht hat, auf den man nicht gefasst war. Das ist ein Zeichen dafür, dass dieses Land immer noch stark ist.
Zur Person
Karl Schlögel, geboren 1948, hat osteuropäische Geschichte, Philosophie, Soziologie und Slavistik an der Freien Universität Berlin studiert und wurde dort mit einer Arbeit über Arbeiterkonflikte in der poststalinistischen Sowjetunion promoviert. In den 1970er und 1980er Jahren hielt er sich mehrfach zu Forschungszwecken in Osteuropa und in den USA auf, von 1982 bis 1983 arbeitete er wissenschaftlich in Moskau, 1987 in Leningrad (das heute wieder St. Petersburg heißt).
1990 folgte Schlögel einem Ruf an den Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der Universität Konstanz, und seit 1994 lehrt er Osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Er lebt in Berlin.
Zu den Forschungsschwerpunkten des Historikers gehören die Kultur der Moderne im östlichen Europa, insbesondere in Russland, die Geschichte der Zwangsmigration und Kulturen der Diaspora im 20. Jahrhundert, Stadtgeschichte und Urbanität im östlichen Europa, sowie theoretische Probleme einer räumlich aufgeschlossenen Geschichtsschreibung.
Publikationen (Auswahl): Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang (2002). Petersburg. Das Laboratorium der Moderne 1909 - 1921 (2002). Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik (2003). Marjampole. Europas Wiederkehr aus dem Geist der Städte (2005). Das russische Berlin. Ostbahnhof Europas (2007). Terror und Traum. Moskau 1937 (2008). Alle erwähnten Bücher sind im Carl Hanser Verlag, München, erschienen.