Geteiltes Kaschmir zwischen den Mühlsteinen; Touristenparadies wurde zum "Tal des Todes"; Gletscherkrieg im Himalaja; Drohender Schatten der A-Bombe; Augenschein im sterbenden "Venedig Asiens": | Die Straßen von Srinagar sind total ausgestorben, die Geschäfte mit Roll-Läden verschlossen. Kein Gesicht zeigt sich an den Fenstern der Häuser. In die gespenstische Stille nähert sich das Dröhnen | von Motoren der Panzerautos, mit denen die indischen Besatzer durch die Straßen patroullieren. Dann und wann knattert eine Maschinenpistole nervöser Soldaten, die an allen strategischen Punkten der | Stadt aufgezogen sind.
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In der Hauptstadt Kaschmirs, die heute von nahezu einer Million Menschen bewohnt wird, haben die Moslems aus Protest gegen die Unterdrückungsmethoden der Inder wieder einmal den Generalstreik
ausgerufen. Die Inder antworten mit einem "Crackdown" in Stadtvierteln, wo islamische Widerstandskämpfer und Waffendepots vermutet werden. Schon seit dem Morgengrauen werden systematisch Häuser
durchsucht und die männlichen Bewohner abgeführt. Zurück bleiben Frauen und Kinder in Angst und Sorge.
An den Sammelstellen beginnt für die Festgenommenen ein langes Warten. Alle Männer, besonders die jungen Leute, werden hochnotpeinlich verhört. "Amnesty International" spricht sogar von Folterungen,
die oft tödlich enden. Die indischen Sicherheitsbehörden leugnen das, geben aber immerhin gelegentliche "Übergriffe" zu.
Tod den Verrätern
Verhaftungen ohne zeitliche Begrenzung und ohne Gerichtsverfahren sind an der Tagesordnung. Wer Pech hat, wird von Verrätern unter den Kaschmirern bei den Indern angezeigt. Daß bei dieser
Gelegenheit auch alte Streitigkeiten unter Nachbarn und Geschäftsleuten ausgetragen werden, liegt auf der Hand. Den Indern gelingt es dadurch, Unsicherheit und Mißtrauen unter die schwer geprüfte
Bevölkerung zu streuen. Natürlich kennen auch die islamischen Partisanen keine Gnade, wenn sie einen "Quisling" erwischen.
Märtyrerfriedhöfe
werden immer größer
Trotz des Ausgangsverbotes, das manchesmal auch eine Woche lang verhängt wird, kommt es immer wieder zu Demonstrationen. Steinewerfende Jugendliche, auch Mädchen, versuchen Polizeisperren zu
durchbrechen. Dabei fallen Schüsse, gibt es Tote und Verwundete. Die Krankenhäuser sind nachher überfüllt. Und die "Märtyrer-Friedhöfe" werden immer größer.
"Heiliger Krieg" gegen
die Besatzer
Trotz des ungeheuren Aufgebots an Sicherheitskräften · in Kaschmir sind eine halbe Million Soldaten, Polizisten und "Sonder-Einheiten" stationiert · ist kein Ende der Kämpfe abzusehen. Die
Widerstandskräfte innerhalb Kaschmirs werden laufend durch Guerillakämpfer, die in Pakistan ausgebildet wurden, verstärkt. Ortskundige Kaschmirer führen sie über die "Waffenstillstandslinie", die das
"Freie Kaschmir" (Azad Kaschmir) vom indisch-besetzten Teil des Landes trennt. Viele der Mudschahedins haben jahrelange Kampferfahrung in Afghanistan gesammelt und sind bedingungslos bereit, im
"Heiligen Krieg" gegen die indischen Hindu-Besatzer ihr Leben zu opfern. Ihre Zahl beträgt schätzungsweise 1.000 Mann, während in Kaschmir selbst ungefähr 10.000 Widerstandskämpfer operieren. Sie
sind in viele Gruppen aufgesplittert, von denen als stärkste die "Jammu-Kaschmir-Befreiungsfront" (JKLF) gilt. Allerdings ziehen auch kriminelle Banden ihren Vorteil aus der unsicheren Situation: Sie
rauben, morden und entführen ohne ideologische oder politische Motive.
Tödlicher Schlag
gegen den Tourismus
Zulauf erhalten die "Militanten", wie sie von den Indern genannt werden, vor allem von jungen Männern, die wegen der Wirtschaftskrise keinen Arbeitsplatz finden. Denn der seit 1989/90 verschärfte
Konflikt hat vor allem die Haupteinnahmequelle Kaschmirs, den Tourismus, tödlich getroffen. Kamen in den achtziger Jahren noch alljährlich rund 600.000 Touristen in das "Venedig Asiens", wie Srinagar
wegen seiner malerischen Kanäle und Seen genannt wird, so sind es derzeit nur einige hundert.
Besonders betroffen sind die Eigentümer von Hotels und der für Srinagar so typischen Hausboote; rund 3.000 liegen seit Jahren unbenützt in den Gewässern des Dal-Sees und der Kanäle. Das Personal
dieser Unterkünfte, aber auch die Angestellten im Transportgewerbe (Autobus- und Taxifahrer, Ruderer der "Schikaras", der lokalen Gondeln) sind ebenso arbeitslos geworden wie die Leute, die typische
Kaschmir-Souvenirs herstellen: Kaschmir-Schals, Walnuß-Schnitzereien, Papiermaché-Dosen und vor allem die berühmten Seiden-Teppiche.
Viele junge Kaschmirer versuchen in anderen Teilen Indiens einen Arbeitsplatz zu finden. Andere gehen in ihrer Heimat Gelegenheitsarbeiten nach und werden von den größtenteils noch intakten
Großfamilien versorgt. Doch die Unzufriedenheit und der Haß auf die indischen Besatzer, denen Schuld an der katastrophalen Situation angelastet wird, wächst täglich.
Flüchtlingselend
auf beiden Seiten
Von Tod und Terror, der nun schon fast ein Jahrzehnt im einst "Glücklichen Tal" wütet, ist auch die zahlenmäßig geringere Hindubevölkerung Kaschmirs betroffen, die früher friedlich mit den Moslems
zusammenlebte. Rund 300.000 Hindu wurden in "sichere" Gebiete der Provinz Jammu-Kaschmir umgesiedelt. Zurück blieben oft verbrannte Dörfer und Tempel. Diese Flüchtlinge leben in denselben tristen und
hoffnungslosen Verhältnissen, wie die Moslem-Flüchtlinge drüben im pakistanisch besetzten Teil Kaschmirs.
Opfer britischer
Kolonialpolitik
Die Ursachen des tragischen Konfliktes, der schätzungsweise 30.000 Menschen das Leben gekostet hat, sind in der britischen "Divide and Rule"-Politik zu suchen. Diese perfide "Teile und Herrsche"-
Politik hat auch in anderen Teilen Asiens und Afrikas für die betroffenen Völker großes Unheil ausgelöst. Als am 15. August 1947 das bis dahin britische Kaiserreich Indien nach religiösen
Gesichtspunkten geteilt wurde, erwartete der in Kaschmir überwiegend moslemische Teil der Bevölkerung den Anschluß an die "Islamische Republik Pakistan". Doch der Maharadscha von Kaschmir, der sich
zum Hinduismus bekannte, ignorierte den Willen des Volkes und stellte sich unter den Schutz Indiens.
"Eiserner Vorhang" seit
einem halben Jahrhundert
Die Moslems riefen den "Heiligen Krieg" aus und standen bald, unterstützt von pakistanischen Truppen, vor den Toren Srinagars. Indien folgte dem Hilferuf des Maharadschas und entsandte auf dem
Luftweg Truppen nach Kaschmir. Diese besetzten vier Fünftel des Gebirgslandes, während ein Fünftel als "Freies Kaschmir" bei Pakistan blieb. Während der drei Kriege, die Indien und Pakistan seit 1947
gegeneinander führten, kam es immer wieder zu Kämpfen an der "Waffenstillstandslinie", die von Beobachtern der Vereinten Nationen überwacht wird. Grenzübertrittsstellen zwischen dem indischen und
pakistanischen Teil Kaschmirs gibt es nicht. Schon seit mehr als einem halben Jahrhundert sind durch diesen "Eisernen Vorhang" drei Millionen Kaschmirer im pakistanischen Teil von ihren sieben
Millionen Brüdern und Schwestern im indisch besetzten Kaschmir getrennt.
Höchstes Schlacht-
feld der Erde
Entlang dieser 400 km langen "Demarkationslinie" kommt es immer wieder zu größeren und kleineren Gefechten. Selbst auf den 5.000 m und 6.000 m hohen Gletschern schießen Pakistaner und Inder völlig
sinnlos aufeinander. Damit ist der Himalaja zum höchsten Kriegsschauplatz der Weltgeschichte geworden. Schon ein kleiner Funke aber könnte in dieser Krisen-Region eine Explosion auslösen, die zum
Zünden der "Hindu-Bombe" und der "Islam-Bombe" führt. Man kann nur hoffen, daß den beiden Völkern die Apokalypse erspart bleibt.