Gegen die Ende 2018 verabschiedete Sozialversicherungsreform gingen 14 Anträge auf Gesetzesprüfung beim Verfassungsgerichtshof ein. Dieser prüft in seiner aktuellen Session.
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Schon seit Jahrzehnten hatten die Vertreter unterschiedlicher Parteien den Begriff zur Sprache gebracht - im Dezember des Vorjahres ist die Kassenfusion unter der damaligen türkis-blauen Regierung schließlich beschlossen worden. Der Protest dagegen war groß: Das sogenannte Sozialversicherungs-Organisationsgesetz führt zu einer Reduktion der Sozialversicherungsträger von 21 auf 5 mit Beginn 2020. Die neun Gebietskrankenkassen (GKK) und die Betriebskrankenkassen werden zur Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) zusammengeführt.
Weiters wird die Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft mit jener der Bauern zur Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen (SVS) verschmolzen und die Versicherungsanstalt für Eisenbahnen und Bergbau mit der Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter zur BVAEB fusioniert. Erhalten bleiben die Pensionsversicherungsanstalt (PVA) und die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt (AUVA). An die Stelle des Hauptverbands tritt künftig ein verschlankter Dachverband. Einem Gutachten der Wirtschaftsuniversität Wien zufolge soll es Einsparungen von 300 Millionen Euro vor allem in der Verwaltung und im Einkauf bringen. Nach fünf Jahren sollen diese voll wirksam werden.
Verschlechterungenbei Versorgung befürchtet
Bereits Monate vor dem Beschluss warnten vor allem die Sozialversicherungen und die Sozialpartner vor Verschlechterungen bei der Gesundheitsversorgung. Danach gingen 14 Anträge auf Gesetzesprüfung beim Verfassungsgerichtshof (VfGH) ein. Dessen aktuelle, dreiwöchige Session und damit die Beratungen darüber, ob die gegen die Reform vorgetragenen Bedenken begründet sind, startete unter dem Vorsitz von Vizepräsident Christoph Grabenwarter am 23. September. Am 8. und auch 9. Oktober findet eine öffentliche mündliche Verhandlung "zur weiteren Klärung der Rechtssache" statt, wie es vonseiten des VfGH heißt.
Antragsteller sind die SPÖ-Bundesratsfraktion (über einen Drittelantrag im Bundesrat), die Kärntner, Oberösterreichische, Steiermärkische und Tiroler GKK sowie mehrere Betriebskrankenkassen wie voestalpine Bahnsysteme und Mondi. Auch die Arbeiterkammern Tirol, Vorarlberg und Wien, die Bundeskammer für Arbeiter und Angestellte, der Betriebsrat der Steiermärkischen GKK, der Seniorenrat und das Landesgericht Linz als Arbeits- und Sozialgericht brachten Anträge ein. Mehrere Versicherte sowie 113 Dienstnehmer, die als "Versicherungsvertreter" in die Verwaltungskörper (Organe) von Sozialversicherungsträgern entsendet worden sind, haben sich ebenfalls an den VfGH gewandt.
So zahlreich die Anträge sind, so komplex sei das Verfahren, heißt es dazu vom VfGH im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". "Es besteht die Absicht, diese Anträge zu verbinden, weil die vorgetragenen Bedenken und angefochtenen Bestimmungen weitgehend übereinstimmen."
Der grundsätzliche Reibungspunkt bei diesen sei, dass dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Selbstverwaltung das Effizienzprinzip gegenüberstehe. Durch die Vereinigung der Gebiets- und Betriebskrankenkassen zur ÖGK verlieren diese Krankenkassen, die derzeit alle Selbstverwaltungskörper sind - also das Recht auf autonome Aufgabenbesorgung haben -, ihre rechtliche Existenz. Das erklärte Ziel der Reform ist demgegenüber die Erhöhung der Effizienz: durch mehr Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit, um Mittel freizusetzen, die auch den Versicherten zugutekommen sollen.
"Ähnliche Fragen stellten sich bereits vor fünf Jahren am VfGH. Damals ging es um Gemeindefusionen in der Steiermark, es wurde ganz ähnlich argumentiert", so der VfGH dazu. "Rund 50 Gemeinden hatten den VfGH angerufen - ohne Erfolg. Der Grundsatz der Selbstverwaltung war nicht verletzt." Der Landesgesetzgeber habe sachliche Gründe - wie die Effizienzsteigerung - vorbringen können und den VfGH überzeugt.
Die aktuellen Anträge richten sich aber nicht nur gegen die Vereinigung zur ÖGK. Auch die Zusammenführung der Prüfung lohnabhängiger Abgaben und Sozialversicherungsbeiträge beim Finanzministerium sowie die Neugestaltung der Verwaltungskörper der Sozialversicherungsträger werden kritisiert. Zur Neuregelung der staatlichen Aufsicht über die Sozialversicherungsträger gingen ebenfalls Anträge auf Gesetzesprüfung ein.
Kritik an Prüfungdurch Finanzämter
Aber alles der Reihe nach. Derzeit ist es so, dass die Krankenkassen selbst überprüfen, ob die Sozialversicherungsbeiträge von den Dienstgebern korrekt bezahlt werden. Künftig soll diese Tätigkeit mit der Abgabenprüfung durch die Finanzämter zusammengelegt werden. Es soll also einen einheitlichen - effizienteren - Prüfdienst geben, der sowohl für die Abgabenprüfung (vor allem Lohnsteuerprüfung) als auch für die Sozialversicherungsbeitragsprüfung zuständig ist. "Das Argument ist, dass diese beiden Beiträge ähnlich berechnet werden. Daher ergeben sich gewisse Synergieeffekte", so der VfGH. Das Argument dagegen sei: die Selbstverwaltung. Die GKK wollen weiterhin die Möglichkeit haben, die Rechtmäßigkeit ihrer Einnahmen zu überprüfen. Für die Bediensteten, die von dieser Zusammenlegung betroffen sind, macht sich laut VfGH unter anderem der Betriebsrat der Steiermärkischen Gebietskrankenkasse als Antragsteller stark.
Ein weiteres Bedenken sei die Neugestaltung der Verwaltungskörper. In den neuen Sozialversicherungsträgern (wie ÖGK, SVS und PVA) sollen die Organe paritätisch aus Dienstnehmern und -gebern zusammengesetzt werden. Bisher hatten in allen Organen die Dienstnehmer die Mehrheit - außer in der Kontrollversammlung, die aber abgeschafft wird. Das verstoße gegen den Grundsatz der Selbstverwaltung, wird auch hier argumentiert.
"Dazu gibt es einige Entscheidungen des VfGH, bei denen dieser gesagt hat, dass Selbstverwaltungsorgane aus der Mitte der Angehörigen des Selbstverwaltungskörpers gebildet werden müssen", heißt es vom VfGH. Den Antragstellern zufolge seien diese Angehörigen ausschließlich die Sozialversicherten - also die Dienstnehmer -, weshalb die Dienstgeber nicht im selben Ausmaß vertreten sein sollten.
Ein prominenter, ähnlicher Fall sei das Hauptverband Erkenntnis aus dem Jahr 2003, so der VfGH. Damals brachte die 63. Novelle zum Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz jene Änderung mit sich, dass die Organe des Hauptverbandes durch die Sozialpartner gebildet werden sollten und nicht wie bisher aus der Mitte der Sozialversicherungsträger. Der VfGH hat diese neue Konstruktion der Gremien praktisch zur Gänze für verfassungswidrig erklärt.
In diesem Zusammenhang steht auch die Einführung eines Eignungstests vor der Aufsichtsbehörde für alle neu entsendeten Versichertenvertreter in der Kritik. Alle bereits entsendeten müssen diesen bis 2021 nachholen. Im Zuge des Tests werden etwa juristische und wirtschaftliche Kenntnisse abgefragt. Die Verfassung schreibt dem VfGH zufolge allerdings vor, dass Selbstverwaltungskörper oder deren Organe nach demokratischen Grundsätzen zu gestalten sind. Eine Prüfung spieße sich mit dem demokratischen Prinzip, so das Argument der Kritiker - wodurch man mit dieser gegen den Grundsatz der Selbstverwaltung verstoße. Es gibt dazu auch einen eigenen Antrag von 113 Dienstnehmern, die die Prüfung nachholen müssen.
Bei der Neuregelung der staatlichen Aufsicht über die Sozialversicherungsträger liegt laut VfGH die Besonderheit wiederum darin, dass die Aufsichtsbehörde berechtigt ist, Vertreter in Sitzungen der Sozialversicherungsorgane zu entsenden. Also Vertreter von Sozial- und Finanzministerium, die berechtigt sind, gegen Beschlüsse einzugreifen. "Sie können verhindern, dass Entscheidungen zustande kommen", so der VfGH - eine besonders heikle Situation, weil es um viel Geld geht und zum Beispiel die PVA auf staatliche Zuschüsse angewiesen ist. Eine relativ engmaschige staatliche Aufsicht über die Sozialversicherungsträger ist laut VfGH bereits seit 1947 vorgesehen.
Dass der VfGH noch in seiner aktuellen Session entscheiden wird, ist schon angesichts der Komplexität und des Umfangs des Falls nicht zu erwarten. Noch aus der Juni-Session stammt ein weiterer, in den Medien präsenter Fall, der vertagt wurde und nun weiter behandelt wird: jener des Sicherheitspakets. Basis ist ein von 61 SPÖ- und Neos-Nationalratsabgeordneten eingebrachter Drittelantrag. Diese versuchen, einige der neuen Überwachungsmöglichkeiten für die Polizei - etwa "Bundestrojaner" oder anlasslose automatisierte Erfassung von Kfz-Kennzeichen - zu Fall zu bringen. Sie sehen mehrere Grundrechte verletzt, vor allem das Recht auf Datenschutz und auf Achtung des Privatlebens.
"Bundestrojaner"wird weiter behandelt
Speziell was den "Bundestrojaner" betreffe - also die technische Möglichkeit, digitale Nachrichten zu überwachen -, seien auf der Seite beider Parteien im Juni Sachverständige angehört worden, heißt es dazu vom VfGH. Über die Sommermonate sei das Ergebnis dieser Anhörungen erst einmal verarbeitet und geprüft worden, ob nun noch eine dritte Meinung eingeholt wird.
Die grundsätzliche Frage sei, welche technischen Möglichkeiten es gibt und wie diese im Einzelnen gestaltet sind. Kann selektiv auf bestimmte Nachrichten zugegriffen werden oder nur pauschal auf alle? Trifft Zweiteres zu, wäre der Eingriff freilich schwerwiegender. Dass der VfGH in der aktuellen Session entscheidet, ist diesem zufolge "ziemlich wahrscheinlich".
Insgesamt stehen rund 600 Fälle auf dem Programm der Session. Mehr als 500 Verfahren werden voraussichtlich in Kleiner Besetzung von fünf Richtern entschieden - die übrigen, teilweise sehr komplizierten Fälle in "normaler" Besetzung von derzeit 13 Richtern einschließlich des Vizepräsidenten.