Viel unternimmt die 2.300 Meter über dem Meer gelegene Hauptstadt des Jemen, um das Image des Landes als Hochburg erpresserischer Entführer vergessen zu machen. Die Kluft zwischen dem Leben der vielen Stämme im Landesinneren und dem Leben im Herzen Jemens, der Zwei-Millionen-Stadt Sana'a ist spürbar. Die Bemühungen, den Anschluss an die Modernität einer Großstadt zu schaffen, sind gewaltig: nun will die Kommune, die massiv in die Wirtschaft investieren will, mit Hilfe von Wiener Umwelttechnologien und Erfahrungen der Wiener Wasserexperten die letzten Trinkwasserreserven schützen und die Kanalisation erweitern. Eine zehnköpfige Delegation des Wiener Magistrats war auf Lokalaugenschein in Sana'a.
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Jemen ist ein historisch bemerkenswertes Land mit einer ausgesprochen alten Kulturgeschichte.
Die Gebäude in der Stadt faszinieren. Obwohl lediglich aus Lehm und Steinquadern errichtet, wachsen sie oft bis zu acht Stockwerke in die Höhe. Weiße Stuckverzierungen um die Fensteröffnungen und an den Dachkanten, bunte Glasscheiben und oft kunstvoll gestaltete Holz- oder Steinerker sind für die Bauten in Sana`a typisch.
Wer inmitten der Stadt auf den Markt stößt, wird von den vielen Händlern stets herzlich willkommen geheißen. Der Tourismus hat erst vor wenigen Jahren begonnen, jährlich kommen bloß ein wenig mehr als etwa 50.000 Urlauber. Vom Klima sind sie nicht ettäuscht, weil trotz zumeist 35 Grad im Schatten nur geringe Luftfeuchtigkeit herrscht.
Rund die Hälfte der Jemeniten sind Analphabeten
Der 40-jährige Kaifos bin Kerrat ist einer der Markthändler. Er verkauft Henna und Schalen mit Kaffeebohnen, einem Produkt, das für den Jemen typisch ist. Täglich sitzt er von morgens bis abends hinter seinen Pulvertürmen. Manchmal hilft ihm sein 15-jähriger Sohn Kalif, seine 12-jährige Tochter Kim und seine Frau Magdda besorgen unterdessen den Haushalt. In die Schule werden die beiden Kinder nicht geschickt. "Zu viel Arbeit am Markt und zu Hause", betont Kaifos. "Die Tochter soll gut kochen können und mein Sohn Kaffeebohnen und Henna herstellen und am Markt verkaufen." Lesen oder gar Schreiben scheint da nicht so notwendig.
So wie er sehen das die meisten Familien in Sana`a. Sie sind Analphabeten. Der Vizebürgermeister von Sana`a, Jamal A. Al Khawlani, bezeichnet den Analphabetismus als eines der größten Probleme des gesamten Landes. "Wir haben sogar eine Belohnung für jene Eltern vorgesehen, die ihre Kinder regelmäßig in die Grundschule schicken", beschreibt der Vizebürgermeister die Bemühungen, an diesem Zustand etwas zu ändern. Vor allem Frauen sind betroffen: Zwei Drittel der weiblichen Gesellschaft des Jemen kann weder lesen noch schreiben. Für Mädchen sind die Bedingungen auch deshalb schwieriger, weil es fast unmöglich ist, weibliches Lehrpersonal zu finden. Und Mädchen dürfen nur von Lehrerinnen unterrichtet werden, weil dies die muslimische Glaubenslehre vorschreibt.
Kaifos verdient monatlich ungefähr 400 Euro, etwas mehr als ein Lehrer des öffentlichen Dienstes, der rund 350 Euro bekommt. Kaifos hat allerdings im Gegensatz zu Bediensteten des Öffentlichen Dienstes keine sichere Anstellung und muss sich selbst über Wasser halten. Immerhin liegt die Arbeitslosigkeit bei fast 50 Prozent.
35 Cent für ein Liter Bleifrei
Auf dem Markt tummeln sich die Bewohner von Sana`a und auch viele verarmte Händler, die von früh bis spät, Tag für Tag, am Boden sitzend ihre 20 No-name-Elektro-Armbanduhren zu einem besonders günstigen Preis anbieten: 200 Rial - rund eineinhalb Euro - und man ist dabei. Da kostet bei uns oft die Batterie mehr....
Diese Händler leben am Markt, schlafen irgendwo zwischen zwei Ständen oder Kaffeebohnensäcken. Es finden sich Gassen mit Ständen, da gibt es nur Töpfe, entsprechend "Töpfergasse" genannt, oder nur Gewürze in der "Gewürzgasse". Oder nur "Auspuffe" in der "Werkstättengasse".
Auspuffe werden vielfach gebraucht und zwar für die zumeist ramponierten Autos, begonnen vom alten Cadillac über denverrosteten Pontiac bis zu einem VW Käfer Baujahr 1961. Zu sehen ist in den Straßen von Jemens Hauptstadt alles, was noch irgendwie fährt, denn so etwas wie eine technische Überprüfung bzw. ein "Pickerl" ist in Sana`a obsolet.
Umgerechnet 35 Cent kostet ein Liter bleifreier Treibstoff. Die Führerscheinprüfung ist fast kostenlos, geprüft wird nach Gutdünken. Die Einhaltung der Straßenverkehrsordnung ist keine Voraussetzung für Autofahrer. Für den Europäer ist es am besten, er vergisst im Verkehr den Vertrauensgrundsatz und fährt mit Gefühl. Nichtbeachtung der roten Ampeln ist keine Seltenheit, sondern - wenn niemand quert - sogar fast Pflicht. Fahrräder und Gehwege sind praktisch nicht vorhanden.
Wenn auf dem Markt einmal nicht viel los ist, schnappt Kalif Papas Jeep, um auf die nahegelegenen Anhöhen, die an den Kahlen- und Leopoldsberg in Wien erinnern, eine Spritztour zu unternehmen. Nicht selten werden bei derartigen Ausfahrten Kühe, die an den unmöglichsten Stellen die Bergstraßen kreuzen, einfach niedergewalzt und liegen gelassen, bis sie verwest sind.
Einfach gehalten wie die Lebensumstände ist auch die Kleidung des muslimischen Volkes. Die Frauen treten ab der Pubertät völlig schwarz verhüllt auf, die Männer tragen dagegen ein helles wadenlanges Hemd, darüber ein Jackett. Markant: Der Krummdolch ist bei jedem Mann ein Statussymbol, der je nach Reichtum des Trägers verziert und gestaltet ist.
Reine Männersache ist auch das Kauen von Kat, einer Pflanze, die, bedingt durch den Rückgang des Kaffeeexports, auf immer größeren Flächen des Anbaugebietes geerntet wird.
Kat-Genuss: Geschwollene Wange und gläserner Blick
Auch Händler Kaifas kaut ununterbrochen an den Blättern, die vor dem Genuss fein säuberlich und akribisch von den Stängeln getrennt werden. Zumeist unter der linken Backe befindet sich der golfballgroße Katballen. "Das Kauen", erzählt Kaifas, "vermittelt mir Glücksgefühle, ihr in Europa trinkt Alkohol, der uns nicht zusteht. Wir im Jemen kauen lieber Kat, schon mein Sohn liebt es." Tatsächlich lebt diese Nation vom Anbau und Verkauf dieser Pflanze, sie ist neben Erdöl die wichtigste Handelsware geworden.
Viele Landbewohner haben sich auf den Katanbau spezialisiert. Diese Katbauern sind wie die meisten anderen Menschen im Jemen sehr arm. Die Bewohner leiden aber nicht nur unter der Armut, sondern auch an der mangelnden Infrastruktur der Stadt.
So muss ein Drittel des Sanaitischen Volkes ohne Strom auskommen, das Trinkwasser ist stets knapp, die Reserven reichen nach Angaben der hiesigen Behörden nach jetzigem Stand nur noch bis 2008. Dann müßten weitere Grundwasserseen in etwa 1000 Meter Tiefe gebohrt werden - ein äußerst kostspieliges und beinahe unmögliches Unterfangen.
Mülldeponie gefährdet Trinkwasservorkommen
Auch die den Trinkwassergebieten nahe gelegene vier Hektar große Mülldeponie bedeutet eine große Gefahr für die Bevölkerung. Vom Krankenhausmüll angefangen bis zu alten Batterien, Bauschutt, Plastik und Hausmüll, alles landet auf dem Berg, der sich rund sechs Kilometer außerhalb der Stadt befindet.
Die Abwassersituation hat gleichfalls eine bedrohliche Dimension erreicht. Eine erst vor kurzem in Betrieb genommene Kläranlage kann nur ein Drittel des angefallenen Abwassers säubern. Der Rest bleibt ungeklärt. Kanalbauexperten der Stadt Wien haben bei ihrem Besuch angekündigt, bei einer eventuellen Erweiterung der Kläranlage mit zu helfen.
Auch bei der Rettung des Trinkwassers hat die Wiener Kommune Hilfe angeboten. Mit dem sogenannten Wiener Kammersystem könnte die Mülldeponie so abgesichert werden, dass unterirdisch keine giftigen, möglicherweise todbringenden Stoffe in das Quellgebiet von Sana`a dringen können. Helmut Kadrnoska von der Wiener Kanalabteilung will bald zwei Abwasserexperten zwecks Hilfestellung in die Stadt entsenden.
Sana'a sicherer als Wien?
Obwohl die Stadt während der Regenzeiten im April/Mai und Augsut/September über Wassermangel nicht klagen darf, gibt es das große Problem, diese gewaltigen Mengen nicht speichern zu können. Hier fehlt es laut Wiener Umweltexperten an Grünland. Eine Aufforstung von Gelände in vielen Teilen der Stadt würde das Wasser vor dem raschen Versickern bewahren, meinen sie.
Vieles fehlt noch in der an 1001 Nacht erinnernden Stadt, manchmal sogar der "fliegende Teppich" - geflogen wird vom Flughafen aus zwar nach Dubai oder Kairo, aber z.B. nicht direkt in die benachbarte Oman-Hauptstadt Muskat. Dorthin gelangt man mit dem Flugzeug nur mit Umsteigen in Dubai.
Auf dem Landweg schafft man es auch, aber nur nach stundenlanger Autofahrt über Berg- und Wüstenstraßen Südjemens, wo man auch heute noch auf fanatische Stammesmitglieder stößt, die mit den strengen religiösen Sitten des Nordjemen unzufrieden sind. Um mediale Aufmerksamkeit für ihre Anliegen zu bekommen, haben sie bis vor eineinhalb Jahren dann und wann Touristen kurzfristig entführt. Trotzdem meint Sana`as Vizebürgermeister im Gespräche mit der "Wiener Zeitung": "Sie können mir glauben, unsere Stadt ist sogar sicherer als Wien!"