Demnächst fällt Spaniens Oberster Gerichtshof sein Urteil gegen zwölf katalanische Unabhängigkeitsaktivisten. Wie aus einem Minderheiten- ein Massenphänomen wurde.
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Es ist ein Urteil, auf das ganz Spanien wartet: Im Oktober wird der Oberste Gerichtshof in Madrid über die strafrechtlichen Vorwürfe gegen zwölf katalanische Aktivisten entscheiden. Den Angeklagten - unter ihnen befinden sich ehemalige katalanische Regierungsmitglieder - werden Rebellion, die Veruntreuung öffentlicher Gelder und Ungehorsam zur Last gelegt. Unabhängig davon, wie die Richter entscheiden: Das Urteil wird einen weiteren Höhepunkt in der emotionalen Diskussion um die katalanische Unabhängigkeit markieren.
Angesichts der aktuellen Situation Kataloniens ist es kaum vorstellbar, dass vor gut hundert Jahren noch kaum jemand in Katalonien das Wort "independència" in den Mund nahm. Denn in den Anfängen des politischen Katalanismus Ende des 19. Jahrhunderts hatte man meist eine Föderation mit dem Rest Spaniens im Sinne. Der Vorwurf, man verstecke dahinter nur den Wunsch nach Unabhängigkeit, wurde damals aufs Heftigste zurückgewiesen. Die Katalanen wollten Autonomie, keine Unabhängigkeit.
Zunächst links gesinnt,danach konservativ
Anfangs war diese Bewegung linker Gesinnung angesichts der Forderung einer Revolution "von unten" und sozialer Gleichheit - bis Spanien seine letzten bedeutsamen Kolonien verlor. Das im Kuba-Krieg 1898 erlebte Desaster, der endgültige Niedergang der Weltmacht Spanien, war gleichzeitig der Beginn des mehrheitsfähigen konservativen Katalanismus. Bald stellte man die stärkste politische Kraft, es blieb aber bei Autonomieforderungen, alles andere war tabu.
Erst nach dem Ersten Weltkrieg kamen separatistische Parteien auf, die jedoch nicht mehrheitsfähig waren. Denn dem Großteil der Katalanen waren die Separatisten zu radikal. Die Diktatur Primo de Riveras (1923 bis 1930), welche die katalanische Sprache und Kultur weitgehend verbot beziehungsweise einschränkte, war jedoch Nährboden für den katalanischen Nationalismus.
Diese Entwicklung setzte sich 1939, als der Diktator Francisco Franco an die Macht kam, fort. Die Repression der katalanischen Kultur wurde intensiviert, das Katalanische in Wort und Schrift komplett verboten, Katalanisten begaben sich ins Exil oder wurden verfolgt. Doch genau das, was man nicht darf, ist oft besonders reizvoll. So sprach man zuhause und im Geheimen Katalanisch, und auch die berühmten katalanischen Dichterwettbewerbe "Jocs florals" fanden weiterhin (teils im Exil) statt.
Auch in den anderen katalanischsprachigen Gebieten - vor allem in Valencia und auf den Balearischen Inseln - scheiterte die spanische Regierung mit ihren Bemühungen, regional-nationalistisches Gedankengut zu unterbinden. So befürwortete der Valencianer Joan Fuster in den 1960ern "die Einheit der katalanischen Länder", also die Verwandlung des gesamten katalanischen Sprachgebiets in einen eigenen Staat. Dies gelang aber keineswegs.
Vielmehr kamen in den 1970ern der sprachliche Sezessionismus und der Blaverismus auf, die den valencianischen Dialekt innerhalb des Katalanischen als eigene Sprache ansahen und die Unterschiede Valencias gegenüber Katalonien unterstrichen. Auf den Balearen kam es teils zu ähnlichen Szenarien, doch hatten die balearischen und valencianischen Nationalismen nie den sozialen Rückhalt, den sie in Katalonien genossen.
Nach dem Tod Francos 1975 gab es einen gewissen Aufschwung des Katalanismus, der jedoch zunächst weiterhin autonomistisch und nicht separatistisch geprägt war. Auf Basis der noch immer geltenden spanischen Verfassung von 1978 erlangte Katalonien ein Autonomiestatut, das das Verlangen nach Autonomie zunächst befriedigte. Katalonien erhielt eine Regionalregierung und weitreichende Kompetenzen im Kultur-, Bildungs- und Sozialbereich. Auch die katalanische Sprache bekam den offiziellen Status, den sie bis heute in Katalonien hat.
Aus "autonomia"wurde "independència"
Einmal Blut geleckt, wollte man jedoch mehr. Nach 23 Jahren unter der Führung des konservativen Katalanisten Jordi Pujol, konnten die Sozialisten im Jahr 2003 mit der Forderung einer Ausweitung des Autonomiestatuts den Posten des Regionalpräsidenten neu besetzen. Im Reformprojekt des Statuts wurde Katalonien als "Nation" bezeichnet und das Katalanische als "bevorzugte" Sprache deklariert. Spaniens Verfassungsgerichtshof stufte diese und andere Teile des Reformstatuts als nicht rechtswirksam beziehungsweise verfassungswidrig ein.
Das führte bei vielen Katalanen zu einem Umdenken: Der Rahmen innerhalb Spaniens ist ausgeschöpft, nun muss es also außerhalb Spaniens weitergehen. Aus "autonomia" wurde "independència". Auch der Eindruck, Nettozahler im spanischen Steuersystem zu sein, spielte vor dem Hintergrund der damaligen Wirtschaftskrise eine Rolle. Außerdem richtete man den Fokus - weg von den identitären Grundlagen der Unabhängigkeit - auf die demokratische "Rechtmäßigkeit" dieser. Anders gesagt: Die katalanische Identität und ihre sprachlich-kulturellen und historischen Grundlagen traten vermehrt in den Hintergrund, wobei das "demokratische Recht" der Katalanen, über ihr eigenes Schicksal (zum Beispiel per Referendum) zu entscheiden, in den Vordergrund trat.
Die Schaffung dieses Unabhängigkeit-Demokratie-Konnexes könnte der eigentliche Clou der Katalanistenführer gewesen sein, um den Wandel von Autonomiewünschen zu Unabhängigkeitsforderungen zu vollziehen. Der bevorstehende Ausgang des Prozesses gegen die Unabhängigkeitsbefürworter wird nun wohl ein weiteres Indiz für die derzeitige Aussichtslosigkeit der Umsetzung dieser Forderungen sein.