Fünf Jahre nach dem illegalen Unabhängigkeitsreferendum sind die Separatisten gespaltener denn je.
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Stein des Anstoßes: Es war in Barcelona, nicht in Madrid. Die katalanische Hauptstadt wurde von Spaniens sozialistischem Ministerpräsidenten Pedro Sánchez gewählt, um dort mit Frankreichs Emmanuel Macron zusammenzukommen. In der Mittelmeermetropole wurde zwischen den beiden vor knapp drei Wochen ein "Freundschaftsvertrag" unterzeichnet. Solche Verträge ging Paris bisher nur mit Deutschland 1963 und mit Italien 2021 ein.
Mit dem Ort des Treffpunkts wollte Sánchez aber auch eine wichtige Botschaft an die Europäische Gemeinschaft schicken - der Streit mit der nach Unabhängigkeit strebenden Mittelmeerregion mit seinen 7,7 Millionen Einwohnern ist endlich vorbei.
Doch das war für Kataloniens Separatisten eine Provokation ohnegleichen. "Hier ist gar nichts vorbei. Wir werden so lange weiterkämpfen, bis wir endlich über unsere eigene Zukunft entscheiden können", stellte Sergi Sánchez klar. Zusammen mit tausenden anderen Unabhängigkeitsbefürwortern hatte sich der 42-jährige Katalane an jenem kalten Jännermorgen am Fuße des Montjuic-Bergs in Barcelona versammelt, um seinen politischen Forderungen am Rande des spanisch-französischen Gipfeltreffens Gehör zu verschaffen.
Doch oben auf dem Montjuic-Stadtberg vor dem Kunstmuseum Kataloniens, wo Sánchez Emmanuel Macron mit militärischen Ehren empfing, wurden das Pfeifkonzert und die politischen Proteste der knapp 7.000 Unabhängigkeitsbefürworter von der Militärkapelle mit den Nationalhymnen Spaniens und Frankreichs übertönt.
Die Protestrufe der Demonstranten galten aber nicht nur Sánchez und Macron, sondern bei dieser Gelegenheit sogar dem eigenen Regierungschef Kataloniens, Pere Aragonès, einem Separatisten. Der war einigen nicht ostentativ genug in der Ablehnung. Dabei nutzte der Linksrepublikaner (ERC) Aragonès das französisch-spanische Gipfeltreffen eigentlich, um den Unabhängigkeitsanspruch seiner Region medienwirksam in Szene zu setzen - und zwar mit einem Boykott. Das war manchen Katalanen nämlich zu wenig.
Auf den Treppen vor dem Katalanischen Kunstmuseum begrüßte Aragonès Sánchez und Macron nämlich kurz, bot Frankreichs Präsidenten Katalonien als "verlässlichen Partner in Europa" an und verabschiedete sich vom Gipfeltreffen, bevor dieses eigentlich richtig begonnen hat.
Als die Nationalhymen der beiden Länder erklangen, trat Aragonès bereits vor die Presse und stellte klar, der Unabhängigkeitskonflikt in Katalonien sei so lange nicht gelöst, bis das katalanische Volk die Möglichkeit besitze, frei über seine Zukunft entscheiden zu können.
Dennoch beschimpften ihn die unten am Montjuic-Berg protestierenden Separatisten als "Verräter". Allein die Tatsache, dass Aragonès Sánchez und Macron überhaupt persönlich in Katalonien willkommen hieß, ging ihnen schon zu weit.
Die Demonstration zeigte in doppelter Hinsicht, wie es fünf Jahre nach dem illegalen Unabhängigkeitsreferendum und der gescheiterten Loslösung von Spanien um Kataloniens Unabhängigkeitsbewegung steht. "Sie ist geschwächt und gespalten. 7.000 Protestteilnehmer ist gar nichts. Vor Jahren hätte die Bewegung noch leicht an die Hunderttausend für den Protestakt mobilisiert", erklärt Miquel Molina, stellvertretener Chefredakteur von Kataloniens größter Tageszeitung "La Vanguardia".
Andererseits: "Viele Separatisten sind frustriert, weil der Unabhängigkeitsprozess ins Stocken geraten ist, und sie geben den Linksrepublikanern von Aragonès mit ihrem pragmatischen Diskurs und ihrem politischen Dialog mit Spanien die Schuld daran", sagt Molina.
So buhten viele Unabhängigkeitsbefürworter am Montjuic-Berg auch Oriol Junqueras, den Vorsitzenden von Aragonès regierenden Linksrepublikanern, so lange aus, bis dieser die Protestkundgebung schließlich verließ. "Wir haben unseren Politikern beim Unabhängigkeitsreferendum 2017 ein klares Mandat gegeben. Doch bisher ist nichts passiert", gibt auch Sergi Sánchez frustriert zu.
Vor nicht allzu langer Zeit feierte die Separatistenbewegung Oriol Junqueras noch als Symbol des Unabhängigkeitskampfes. Junqueras war 2017 Kataloniens stellvertretener Ministerpräsident in der separatistischen Regionalregierung von Carles Puigdemont. Zusammen bereiteten sie das im Vorfeld vom Verfassungsgericht verbotene und von der spanischen Zentralregierung untersagte Unabhängigkeitsreferendum vom 1. Oktober 2017 vor.
Als sich der Wahltag näherte, schickte Madrid 5.000 Polizisten aus anderen Regionen Spaniens nach Katalonien, weil man der Regionalpolizei nicht traute, dass sie das illegale Unabhängigkeitsreferendum unterbinden würde. Die Bilder von prügelnden spanischen Polizisten in Wahllokalen gingen um die Welt.
90 Prozent stimmten damals für eine Abspaltung von Spanien. Doch beteiligten sich auch nur Unabhängigkeitsbefürworter an der Volksbefragung. Die spanische Regierung rief zuvor alle Katalanen auf, nicht an dem illegalen Referendum teilzunehmen. So nahmen schließlich auch nur 42 Prozent der wahlberechtigten Katalanen teil. Kurz vor der Abstimmung hatte das separatistisch dominierte Regionalparlament in Barcelona ein sogenanntes "Abspaltungsgesetz" beschlossen, um bei einem Sieg des Ja-Lagers innerhalb von 48 Stunden die Unabhängigkeit auszurufen.
Die ausgerufene Unabhängigkeit traf auf Zwangsverwaltung
Spaniens konservativer Ministerpräsident Rajoy sprach dem Referendum die Gültigkeit ab. Spaniens König Felipe VI. wandte sich in einer Fernsehansprache sogar an die Katalanen: "Ich weiß, dass in Katalonien große Sorge über das Verhalten der autonomen Behörden herrscht. Sie haben die Solidarität der übrigen Spanier und die absolute Garantie, dass ihr Rechtsstaat ihre Freiheit und ihre Rechte verteidigt."
Dennoch rief Separatistenführer Carles Puigdemont drei Wochen später die Unabhängigkeit aus, auch wenn er sie sofort wieder aussetzte, um Verhandlungen mit Madrid aufzunehmen. Die spanische Zentralregierung ließ nicht mit sich handeln: Puigdemonts Regierung wurde sofort abgesetzt und Katalonien wurde bis zu Neuwahlen unter Zwangsverwaltung gestellt.
Die spanische Polizei nahm zahlreiche Mitglieder der Regionalregierung fest, während sich Puigdemont und andere Mitstreiter in einer Nacht-und-Nebel-Aktion nach Belgien und Schottland absetzten. Puigdemonts Vize Oriol Junqueras und ein Dutzend anderer Minister blieben und kamen in U-Haft. 2019 wurden sie wegen "Rebellion" und "Volksverhetzung" zu Haftstrafen von bis zu 13 Jahren verurteilt.
"Inhaftierte Separatistenführer wie Junqueras galten lange als Märtyrer. Damit konnten die separatistischen Parteien die enttäuschten Anhänger noch eine Zeit lang mobilisieren. Doch die Frustration über das Ausbleiben der Loslösung von Spanien wurde immer größer. Danach kamen die Sorgen über die wirtschaftlichen Folgen des Unabhängigkeitsprozesses", erklärt der katalanische Politikwissenschaftler Oriol Bartomeus von der Autonomen Universität Barcelona den nachlassenden Rückhalt in der Bevölkerung.
Bis zu 2.500 Unternehmen verließen im Zuge der teilweise von schweren Straßenkämpfen und gewalttätigen Protesten begleiteten Unabhängigkeitswirren Katalonien und siedelten sich in anderen Regionen Spaniens an, vor allem in Madrid.
Danach kamen die Corona-Pandemie mit ihren auch wirtschaftlichen Folgen, der Ukraine-Krieg und mit ihm eine steigende Inflation, explodierende Energiekosten. "Auch für die Menschen in Katalonien sind das die dominierenden Probleme und nicht mehr die Frage nach der politischen Unabhängigkeit von Spanien", meint Bartomeus.
So unterstützen seit Beginn des Unabhängigkeitsprozesses 2012 heuer erstmals auch weniger als 40 Prozent der Katalanen überhaupt noch eine Loslösung von Spanien. Laut einer jüngsten Umfrage der Autonomen Universität Barcelona sprechen sich derzeit lediglich 39 Prozent der katalanischen Bevölkerung noch für die Unabhängigkeit aus, 53,2 Prozent würden bei einem hypothetischen Referendum sogar dagegen stimmen.
Dabei hielten sich in den vergangenen Jahren Befürworter und Gegner der Unabhängigkeit die Waage. Für das Separatistenlager noch alarmierender: Laut der Umfrage glauben nur noch vier Prozent der Katalanen, dass es überhaupt zur Unabhängigkeit Kataloniens kommen werde.
Ein nicht unwichtiger Faktor für den abnehmenden Rückhalt des Unabhängigkeitsprozesses ist dabei auch das langsame Zerbröckeln der separatistischen Einheitsfront, meint Politologe Bartomeus. Kurz nach dem Unabhängigkeitsreferendum löste sich Puigdemonts und Junqueras separatistische Referendums-Allianz JxSi (Zusammen für das Ja) auf. Bei den Neuwahlen konnte sich Puigdemonts selbsterklärter "Platzhalter" Quim Torra mit der neugegründeten Parteien-Allianz JxCat (Zusammen für Katalonien) durchsetzen und im Mai 2018 mit den Linksrepublikanern eine separatistische Regierungskoalition aufstellen.
Dennoch kam der Unabhängigkeitsprozess ins Stocken. Die Repressalien gegen die Separatistenführer machten der Bewegung zu schaffen. 2020 musste schließlich auch Torra sein Amt als Regierungschef räumen, weil er die staatlichen Institutionen für parteiische Propaganda missbrauchte.
Laut dem Verfassungsgericht war es illegal, am Regierungssitz Plakate anzubringen, welche die Freilassung der "politischen Häftlinge" forderten. Spaniens Justiz und die Zentralregierung stellten klar, dass es sich bei den inhaftierten Separatistenführern nicht um "politische Häftlinge" handelte, sondern um Politiker, die gegen die Verfassung verstoßen haben.
Nach Torras Absetzung übernahm sein Stellvertreter, der Linksrepublikaner Pere Aragonès, übergangsweise die Regierung und setzte sich Anfang 2021 bei den Neuwahlen durch. "Das war ein Novum. Bisher war es das ideologisch eher konservativ-bürgerliche Lager von Puigdemont, welches im Separatistenlager den Ton angab. Doch nun übernahmen plötzlich die Linksrepublikaner das Ruder. Seitdem gibt es einen harten Führungs- und Richtungsstreit unter den separatistischen Parteien", erklärt Journalist Miquel Molina.
Da die (zentralistischen) Sozialisten die Neuwahlen damals gewinnen konnten, brauchte Aragonès die Unterstützung von Puigdemonts Lager. Die Verhandlungen gestalteten sich äußerst schwierig. Erst im Mai 2021 konnten sich die Linksrepublikaner mit Puigdemonts mittlerweile "Junts" heißenden Partei auf eine separatistische Regierungskoalition einigen.
Mit der ist es seit vergangenen Herbst aber auch schon wieder vorbei. Der Grund: Die Linksrepublikaner haben aus dem gescheiterten Referendum und der Verhaftung zahlreicher ihrer Parteispitzen wie Oriol Junqueras die Lehre gezogen, dass ein Unabhängigkeitsreferendum nur stattfinden kann, wenn es mit Madrid ausgehandelt wird.
Dialog der Linksrepublikaner ist für die Junts ein Schmusekurs
Aragonès sucht seitdem den politischen Dialog mit Spaniens sozialistischem Ministerpräsidenten Sánchez, ohne jedoch das Ziel der Unabhängigkeit aus dem Auge zu verlieren. Puigdemont und sein Lager sind hingegen strikt gegen diesen "Schmusekurs". Sie sprechen sich weiterhin für einen radikalen Konfrontationskurs mit Spanien aus. "Vor allem macht dem Puigdemont-Lager aber der Machtverlust innerhalb der Unabhängigkeitsbewegung zu schaffen", versichert Miquel Molina.
Unterstützt wird Puigdemont in seinem Konfrontationskurs von der mächtigen separatistischen Bürgerbewegung ANC, die seit über zehn Jahren am katalanischen Nationalfeiertag die traditionellen Unabhängigkeitsmärsche in Barcelona organisiert. Konnte die ANC jedes Jahr am 11. September weit über eine Million Menschen mobilisieren, waren es im vergangenen Jahr laut Angaben der Lokalpolizei aber nur noch 150.000.
Auch Pere Aragonès und seine regierenden Linksseparatisten sagten ihre sonst übliche Beteiligung am Unabhängigkeitsmarsch direkt ab, nachdem sie im Vorfeld scharfe Kritik von der ANC und Junts für ihre "Dialogpolitik" mit Madrid erhielten.
Aragonès hat allerdings ein Problem. Er muss Fortschritte liefern, will er auch weiterhin im Separatistenlager und in Katalonien den Ton angeben, und Spanien feiert 2023 ein Superwahljahr mit landesweiten Gemeindewahlen Ende Mai, einem Dutzend Regionalwahlen und Parlamentswahlen im Dezember.
Spaniens Premier Sánchez kam Aragonès bisher auch entgegen, zumal er mit seiner linken Minderheitsregierung in Madrid die Stimmen der katalanischen Linksrepublikaner braucht. Er bietet mehr Autonomierechte an. Die Abhaltung eines Unabhängigkeitsreferendums ist für Sánchez aber eine rote Linie.
Im Juni 2021 begnadigte er immerhin die inhaftierten Separatistenführer. Im vergangenen Dezember ließ Sánchez dann sogar das spanische Strafrecht zugunsten der Separatisten reformieren, indem er den Straftatbestand des Aufruhrs abschaffte. Damit wollte er eine "neue Ära des Dialogs und der Aussöhnung" eröffnen.
Einige Separatistenführer wie die linksrepublikanische Marta Rovira, die wegen ihrer Beteiligung am Unabhängigkeitsreferendum vor der spanischen Justiz in die Schweiz geflohen ist, könnten nun tatsächlich straffrei nach Spanien zurückkehren.
Puigdemont und zwei anderen Mitstreitern würden wegen Ungehorsam und Veruntreuung öffentlicher Gelder aber immer noch Haftstrafen drohen - wenn auch wesentlich kürzere. Doch Puigdemont, seit 2019 EU-Abgeordneter, stellte klar, er werde "weder in Handschellen noch ausgeliefert vor einen spanischen Richter" zurückkehren.
Die vor der spanischen Justiz flüchtigen Separatistenführer trauen dem Braten nicht. Damit sind sie anscheinend auch gut beraten. Denn Spaniens Oppositionsparteien gehen gegen die Strafrechtsreform vors Verfassungsgericht, sie könnte also stürzen. Spaniens konservativer Oppositionsführer Alberto Nunez Feijóo (PP) kündigte an, die Reform sofort wieder rückgängig zu machen, sollte er die Parlamentswahlen im Winter gewinnen. Es könne nicht angehen, dass Personen, die die Einheit Spanien zerstören wollten, plötzlich kein Vergehen mehr begannen haben und straflos davonkommen.
Unterdessen droht Puigdemont jetzt sogar die Auslieferung, da der EU-Gerichtshof in Luxemburg vor zwei Wochen entschied, dass Belgien die von Spanien beantragte Auslieferung nicht länger ignorieren dürfe. Sollte nun im März auch noch das EU-Parlament, wie von Spanien gefordert, Puigdemont seine Immunität als EU-Abgeordneter entziehen, dürfte dieser wohl schon bald an die spanische Justiz ausgeliefert werden.
Haushalt zusammen mit den Sozialisten paktiert
Bei Junts liegen die Nerven blank. Erst recht, nachdem Aragonès vergangene Woche definitiv die langjährige separatistische Einheitsfront aufgab und sich im Regionalparlament mit den nicht-separatistischen katalanischen Sozialisten (PSC) auf einen Haushalt für 2023 einigte.
"Aragonès hat uns verraten", stellt Unabhängigkeitsbefürworter Sergi Sánchez klar. Wie viele Separatisten sieht auch die erhoffte Loslösung von Spanien immer weiter entfernt. Damals, am 1. Oktober 2017, sei für ihn ein Traum in Erfüllung gegangen. "Nach der Geburt meiner Tochter war das Unabhängigkeitsreferendum für mich der vielleicht schönste Tag in meinem Leben", meint er. Für ihn ist ein unabhängiges Katalonien eine Identitätsfrage. Er fühle sich weder kulturell noch sprachlich als Spanier. "Ich möchte einen Pass, in dem steht, dass ich Katalane bin. Und ich will eine eigene katalanische Nationalmannschaft", sagt der fanatische Fußball-Fan, der auf Unabhängigkeitsmärschen stets mit Barça-Trikot erscheint. "Das Spanien-Wappen ist für mich das Symbol eines Unterdrücker-Staates." Doch ob er jemals einer katalanischen Fußballnationalmannschaft zujubeln kann, bezweifelt auch Sergi immer häufiger.