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Katerstimmung im Brexit-Land

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Die Briten versprechen, bis 2. September eine neue Regierung auf die Beine zu stellen, um Austrittsverhandlungen mit der EU eröffnen zu können. Viele rechnen auch mit Neuwahlen spätestens im Frühjahr. S&P entzieht Briten Toprating.


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London. Die Briten wollen die Bildung einer neuen Regierung beschleunigen, um den gegenwärtigen Zustand der Ungewissheit in London zu beenden. Über den Juli und August hinweg will die Konservative Partei einen neuen Vorsitzenden wählen. Dieser wäre dann unmittelbar auch neuer Premierminister und könnte Austrittsverhandlungen mit der EU aufnehmen.

Noch diesen Donnerstag soll die Kandidatenliste für den Tory-Vorsitz feststehen, und bis spätestens 2. September soll der Nachfolger David Camerons gewählt sein. Damit gibt die Regierungspartei dem Druck nach, den EU-Partner und Märkte zurzeit auf London ausüben. Vor allem die erneute Unruhe an den Börsen hatte bewirkt, dass nun nicht mehr bis Oktober oder November mit der Neuformation der Regierung gewartet werden soll.

Die Lage an den Märkten wird als zunehmend ernst betrachtet. Natürlich werde man sich "an die neue Situation, in der wir uns befinden, anzupassen haben", meinte Schatzkanzler George Osborne. Dazu sei die britische Wirtschaft aber zweifellos in der Lage. Der Minister, der das ganze Wochenende über geschwiegen hatte, räumte allerdings auch ein, "dass einige Firmen weiter Investitionen und Neueinstellungen aufschieben werden und dass das Folgen für die Wirtschaft und für die öffentlichen Finanzen haben wird". Trotz des Versuchs Osbornes, die allgemeine Nervosität einzudämmen, sanken die Aktien weiter.

Das Brexit-Votum hat Großbritannien unterdessen eine Abstufung durch die US-Ratingagentur Standard & Poor’s (S&P) beschert. Die Briten haben nun kein Toprating von AAA mehr, sondern liegen nur noch bei AA - zwei Stufen tiefer. Der Ausblick ist negativ, wie S&P mitteilte.

Osbornes Vorgänger als Finanzminister, der Labour-Politiker Alistair Darling, drängte am Montag darauf, dass die Regierung das "politische Vakuum" füllen müsse, das nach dem Brexit-Referendum entstanden sei und "schweren Schaden" anrichte. Darling sagte: "Wir haben keine Regierung. Wir haben keine Opposition. Die Leute, die uns dieses Schlamassel beschert haben, sind abgetaucht." Er persönlich finde die jetzige Lage beängstigender als die Situation im Jahr 2008, als er mit dem Credit Crash zu tun hatte, fügte Darling hinzu.

Noch-Premier Cameron erschien am Montagnachmittag im Unterhaus, um zum Ausgang des Referendums Stellung zu nehmen. Er habe dieses Ergebnis nicht gewollt und sei in Sorge wegen der Konsequenzen, sagte Cameron, aber er respektiere die Entscheidung der Nation. Man habe bereits eine Abteilung mit Topexperten aus mehreren Ministerien eingesetzt, die mit Vorarbeiten beginnen sollen. Eine Entscheidung über Großbritanniens Verhandlungsziele werde allerdings erst von der Nachfolge-Regierung getroffen werden.

Der Ex-Bürgermeister von London, Boris Johnson, der die Brexit-Kampagne anführte und dem die besten Chancen für die Cameron-Nachfolge eingeräumt werden, meldete sich am Montag ebenfalls zu Wort. In seiner wöchentliche Kolumne im rechten "Daily Telegraph" erklärte er, dass die Briten nach ihrem Brexit-Entscheid hervorragende Chancen hätten, auf der Basis freien Handels "eine neue und bessere Beziehung zur EU" einzugehen.

Johnson spielt auf Zeit

Großbritannien werde nach seinem Austritt aus der EU zwecks Einwanderungskontrolle ein Punktesystem nach australischem Vorbild einführen, sich aber gleichzeitig den freien Zugang zum EU-Binnenmarkt erhalten. Im Grunde werde sich wenig ändern, meinte Johnson. Nur von der "undurchsichtigen" EU-Gesetzgebung werde man sich befreit haben. Eile sei dafür aber nicht geboten, setzte er hinzu. Seine Landsleute sollten "stolz und positiv" im Blick auf die Zukunft sein. Johnson ist Favorit für den Posten des Partei- und Regierungschefs im September. Aber auch andere konservative Politiker werden bis Donnerstag ihre Kandidatur anmelden. Als Hauptrivalin gilt Innenministerin Theresa May, die ebenfalls zum rechten Flügel der Partei gehört, im Referendumsstreit aber Cameron zur Seite stand.

Auch Labour im Krisenmodus

Unterdessen spitzte sich am Montag auch der Kampf um die Parteiführung in der oppositionellen Labour Party zu. Im Protest gegen Parteichef Jeremy Corbyn sind binnen zwei Tagen fast alle namhaften Mitglieder seines Schattenkabinetts ausgetreten. Die "Rebellen", darunter erstmals auch Abgeordnete der Linken, die Corbyn zuvor unterstützten, werfen dem Parteichef vor, sich in der Referendumskampagne nicht ausreichend für die EU eingesetzt zu haben und insgesamt die Partei nicht gut genug zu repräsentieren. Auch Labour-Vize-Chef Tom Watson legte Corbyn den Rücktritt nahe. Corbyn habe, sagte Watson, in der Fraktion keinen Rückhalt mehr.

Die Nervosität im Labour-Lager hat auch mit der Erwartung baldiger Neuwahlen in Großbritannien zu tun. Es wird vermutet, dass ein vorgezogener Urnengang schon in diesem Herbst oder aber im nächsten Frühjahr stattfinden könnte. Regulär wären Parlamentswahlen erst wieder im Jahr 2020 fällig. Die Turbulenzen der letzten Tage haben jedoch die politische Szene völlig durcheinandergewirbelt. Die Liberaldemokraten haben bereits angekündigt, dass sie mit der Forderung nach Verbleib in der EU in diese Wahlen ziehen würden.

Ruf nach neuer Abstimmung

Auch die Forderung nach einem zweiten EU-Referendum wird in London lauter. Am Montag schloss sich der frühere Tory-Vize-Premier Lord Michael Heseltine dieser Forderung an. Heseltine wies darauf hin, dass der Ukip-Vorsitzende Nigel Farage vor dem Referendum erklärt hatte, ein knappes Ergebnis rechtfertige eine zweite Volksabstimmung. Damals hatte Farage eine Niederlage für Brexit befürchtet. Das Gleiche, meinte Heseltine, müsse nun für die andere Seite gelten.

Heseltine äußerte die Ansicht, dass zuerst Verhandlungen mit der EU stattfinden müssten und dass im Anschluss daran das Parlament und die Bevölkerung noch einmal abstimmen sollten. Niemand im Brexit-Lager habe vor dem Referendum erklären können, was ein Leben außerhalb der Europäischen Union für die Briten wirklich bedeuten würde, so der Tory-Politiker. Wenn man darauf erst einmal eine Antwort habe, habe die Öffentlichkeit ein Anrecht auf eine erneute Abstimmung.