Zwei Wochen nach dem Brexit-Referendum ist völlig unklar, was nun mit britischen Europaabgeordneten geschehen wird. | Von einem Rücktritt des EU-Kommissionspräsidenten will derweil in Straßburg so gut wie niemand etwas hören.
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Straßburg. Viereinhalb Stunden lang sitzt Jean-Claude Juncker am Dienstag im Plenarsaal in Straßburg und lauscht den Wortmeldungen der Abgeordneten zum derzeit wohl dringlichsten Problem Europas: der voraussichtliche EU-Ausstieg Großbritanniens. Es ist die erste Plenartagung in Straßburg nach dem Brexit und die letzte vor der Sommerpause. In Straßburg herrscht Katerstimmung.
Als er dann endlich am Wort ist, ist dem EU-Kommissionschef seine Ungeduld deutlich anzumerken. "Sie müssen sich hier nicht schweißgebadet in den Ring werfen, um zu betonen, das Ergebnis der Abstimmung zu akzeptieren", sagt er in Anspielung auf die Beteuerungen zahlreicher Abgeordneter, den Willen des britischen Volkes gehört zu haben. Dieses, so Juncker, habe nicht etwa gegen den Euro oder Schengen gestimmt, denn beides gelte in Großbritannien nicht. Die Briten hätten für den Brexit gestimmt, weil ihre Eliten seit 40 Jahren alles Übel auf Brüssel schieben. Man solle nun nicht das Votum umdeuten, "um dort zu landen, wo man eh hinwollte". Im Gegenteil, die Botschaft laute nun, die EU zu modernisieren. Er, Juncker, habe schon eine politische Kommission, die dem Programm folge, für das das Europäische Parlament mit großer Mehrheit gestimmt hatte. Er sei aber gegen Vertragsreformen zu diesem Zeitpunkt, "obwohl es möglich sein muss, auch langfristig zu denken".
Der EU-Kommissionschef hat es nicht leicht gehabt in den vergangenen Wochen. Viele machen ihn und seine Kommission für die Entscheidung der Briten verantwortlich. "Diesen Schuh ziehe ich mir nicht an!", ruft Juncker in Richtung des AfD-Abgeordneten Bernd Lucke, der seinen Rücktritt gefordert hatte. Zwar solle man nicht weitermachen wie bisher, aber "wir können nicht lösen, was die Mitgliedstaaten selbst zu lösen nicht imstande sind".
Dass Juncker, dessen Europäische Volkspartei die Wahlen 2014 gewann, zurücktreten soll, hört man in den vergangenen Tagen aus unterschiedlichen Richtungen. Laut Medienberichten soll ein CDU-Politiker gesagt haben, dass der Kommissionschef Teil des EU-Problems ist. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel wollte ihn ohnehin nie so richtig. Ihr war er zu politisch, seine Vorstellung von einer tieferen Union zu ambitioniert. Die Auffassung Junckers, es solle nun mit dem Brexit so schnell wie möglich gehen, gefällt Merkel schon gar nicht. Sie möchte den Briten Zeit geben - nicht zuletzt aus Sorge um die deutsche Wirtschaft. Eine Krise des Londoner Finanzplatzes könnte auch der fragilen deutschen Finanzwelt - Stichwort Deutsche Bank - schaden. Der Kommissionschef eignet sich gut als Sündenbock für alles, was in der EU falsch läuft.
Zu seinen größten Unterstützern zählen heute vor allem Sozialdemokraten und Liberale - ausgerechnet jene, die 2014 seine stärksten Gegner waren. Es hilft nicht, dass sein angebliches Alkoholproblem vor kurzem erstmals medial thematisiert wurde und der Kommissionspräsident zu schrägen Auftritten neigt. Trotzdem: Von einem Rücktritt will in Straßburg so gut wie niemand etwas hören.
"Juncker wirkt müde", sagt SPÖ-Delegationsleiterin Evelyn Regner, er symbolisiere "sicher nicht das Europa in Aufbruchstimmung". "Aber er ist demokratisch legitimiert und es wäre nicht klug, jetzt seine Führung infrage zu stellen". Für den "absolut falschen Zeitpunkt" hält auch ihr Parteikollege Eugen Freund die Personaldebatte. "Das britische Beispiel kneifender Politiker sollten wir nicht nach Europa holen."
Auch in einer anderen Sache sind sich die österreichischen Europaabgeordneten von SPÖ, ÖVP und Grünen einig: Die Rücktritte in Großbritannien nach der Brexit-Abstimmung - Boris Johnson, David Cameron, Nigel Farage - waren ein feiger Rückzug derjenigen, die das Referendum überhaupt angezettelt haben. Unklar bleibt, was nun mit den britischen Abgeordneten im EU-Parlament passiert. Noch stellen sie Berichterstatter und Vorsitzende von Fraktionen und Ausschüssen, noch ist juristisch nichts passiert - die EU hat immer noch 28 Mitgliedstaaten. Solange die Briten ihren Antrag auf EU-Austritt nicht stellen - und das wird voraussichtlich erst Anfang 2017 geschehen - bleibt also alles beim Alten.
Weichenstellungen im Herbst
Einige Abgeordnete bezweifeln sogar, dass der Antrag je gestellt wird. Man müsse abwarten, wie es in Großbritannien innenpolitisch weitergeht, ob es Neuwahlen gibt oder gar ein neues Referendum, sagt die österreichische Grüne und Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Ulrike Lunacek. An einen "Exit vom Brexit" glaubt ÖVP-Delegationsleiter Othmar Karas nicht: "Man kann nicht zuerst zündeln und dann, wenn man ein Ergebnis hat, zurückziehen." Es liege nun beim britischen Parlament, mit dem EU-Austritt umzugehen. Erst nach einer Entscheidung könne die EU reagieren.
Es wird sich weisen, ob die Sommerpause reicht, damit Juncker und die EU ihren Brexit-Kater überwinden. Dann, im September, könnte nicht nur feststehen, wer nächster britischer Premier wird, sondern auch, mit wem er oder sie über den Brexit verhandelt. Das EU-Parlament wünscht sich, dass die Verhandlungen unter Führung der EU-Kommission stattfinden. Einige EU-Staaten wollen stattdessen den Rat mit dieser Aufgabe betreuen. Das könnte für neue Kopfschmerzen sorgen.