Die Salzburger Schriftstellerin Kathrin Röggla über Tagebücher, Theater und Tokio - und warum sie sich als Intellektuelle in Deutschland wohler fühlt als in Österreich.
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Wiener Zeitung: Frau Röggla, Sie sind hier in einem kleinen nordhessischen Dorf auf Urlaub. Kann man als Schriftstellerin überhaupt auf Urlaub sein? Kathrin Röggla: Nein ( lacht ). Ich habe eben das Manuskript des nächsten Buchs abgegeben und jetzt ist eine Phase des Durchatmens entstanden. Aber Urlaub im Sinne von totalem Abschalten interessiert mich ohnehin nicht.
Gibt es Tage, an denen Sie nichts notieren, nichts schreiben?
Schreiben ist eine Sache von Regelmäßigkeit. Es ist wie beim Klavierspielen. Macht man es länger nicht, verlernt man es. Schreiben ist ein längerfristiger Prozess, kommt nicht spontan aus dem Nichts. Man ist in eine Matrix des Schreibens und Nachdenkens eingebunden, die einen steten Fluss darstellt, der manchmal ins Stocken gerät, sich manchmal verliert oder ausdünnt, nicht immer die gleiche Stärke hat.
Führen Sie Tagebuch?
Nicht im eigentlichen Sinn. Es gibt ein Notizheft, das ist aber weniger der Chronologie meines persönlichen Erlebens und Fühlens verpflichtet als Gedanken, Textideen und Skizzen, die zu diesem Auseinandersetzungsprozess gehören. Ich stelle mich ja auch nicht in den Mittelpunkt meines Schreibens. Es gibt Autoren, die das sehr vehement machen, und dabei entstehen tolle Texte, mir liegt das aber nicht. Ich habe Themen wie zum Beispiel das Katastrophische, die Arbeit, die Ökonomie, an denen ich längerfristig arbeite. Am ehesten könnte man von Tagebuchartigem sprechen, wenn ich auf Reisen bin, aber auch da hangle ich mich an Themen entlang.
Sie haben schon öfter Texte über Ihre Reisen geschrieben, etwa über New York oder Georgien. In Ihrem jüngsten Buch, "tokio. rückwärtstagebuch", einer Gemeinschaftsarbeit mit dem Comiczeichner Oliver Grajewski, schreiben Sie in Tagebuchform über Japan. War Ihnen vor Antritt der Reise schon klar, dass Sie daraus ein Buch machen würden?
Ja, das war schon vorher mit Oliver Grajewski vereinbart. In Japan hat das Tagebuchschreiben eine viel ältere Tradition als in Europa - und ist auch viel angesehener. Es gibt Autoren, die ausschließlich Tagebücher schreiben. Man möchte das gar nicht glauben, weil man Japan mit Entindividualisierung verbindet, man hat das Bild schweigender Massen vor Augen und eben nicht das Bild eines Individuums, das über sich reflektiert. Man kommt beim Reisen aber nicht umhin, auch die eigene Position zu reflektieren, das Ich als Spiegel, als Reflektionsfläche der Welt, die einem entgegentritt.
"tokio. rückwärtstagebuch" ist kein traditionelles Tagebuch, das Erfahrungen chronologisch nachgeht, sondern zum einen rückwärts funktioniert, also in die andere Zeitrichtung geht, zurück zur Ankunft, zum anderen wird darin versucht, gewissen Themen nachzugehen.
Kann man Tagebuchschreibern trauen? Oder lügen Sie?
( Lacht ) Lügen gehört zur Literatur, wobei das eine moralische Kategorie ist, die in der Literatur nichts zu suchen hat. Das Interessante am Tagebuch ist das Spannungsverhältnis zwischen dem angeblich Objektiven und dem angeblich Subjektiven.
Das Tagebuch ist doch eine sehr intime Form, weil der Leser annimmt, dass es nicht für ihn geschrieben wurde.
Und doch ist das literarische Tagebuch für die Öffentlichkeit geschrieben, es spielt also mit diesem intimen Effekt. Etwas, das ich nicht sehr stark ausreize, weil ich es stärker nach außen gerichtet habe.
"Die Reise lehrt einen nichts, wenn man ihr nicht auch das Recht einräumt, einen zu zerstören." Sie zitieren in Ihrem letzten Buch diesen Satz von Nicolas Bouvier. Wie sehr hat Tokio Sie verändert?
Es gibt die Erwartung an das Reisen, dass dabei Erfahrung gewonnen wird und ein Wissenszuwachs entsteht. Das ist im Grunde bürgerliches Denken. Eine Reise wirft nicht immer Gewinn ab, man kann auch verlieren, etwa seine Sicherheit oder Identitäten.
Japan hat den Nimbus des absolut Fremden, deshalb ist man ständig hin- und hergeworfen zwischen dem Gefühl des total Fremden und des total Vertrauten. Man tappt kulturell ständig im Dunkeln. Zudem ist man als Europäerin eine extrem auffällige Person, man erlebt eine gewisse Stigmatisierung im öffentlichen Raum, etwa, dass Leute sich in der U-Bahn nicht neben einen setzen. Jetzt weiß ich, wie man sich als Afrikaner in der Wiener U-Bahn fühlt.
Zentrale Motive in Ihrem Text sind die Erschöpfung und die Bewegung, beziehungsweise die Erschöpfung, die aus der Bewegung resultiert. Haben Sie das in New York, wo sie sich ebenfalls länger aufgehalten haben, auch so empfunden?
New York ist, zumindest in Manhattan, voll auf Speed. Tokio ist auch auf Speed, aber es gibt auch zentral gelegene Quartiere mit dörflichem Charakter, die sehr verschlafen und kleinhäuslerisch wirken.
Ihr Text und Oliver Grajewskis Bildgeschichte harmonisieren sehr schön. Wie hat die Zusammenarbeit funktioniert?
Wir kennen uns lange und haben schon vorher kleinere Projekte zusammen gemacht. Zentral war die Idee, dass er in japanischer Manga-Tradition vom Buchende nach vorne erzählt und ich ebenfalls in verkehrter Chronologie schreibe. Ich fand es sehr interessant, die Konvention umzudrehen, weil die zeitliche Ausrichtung extrem kulturell konnotiert und getaktet ist.
Sie haben kürzlich den Essay "Gespensterarbeit, Krisenmanagement und Weltmarktfiktion" veröffentlicht, in dem es um die Finanzkrise geht. Wäre die mit Mitteln der Fiktion, also etwa in der Form eines Romans, erzählbar?
Ich bin tatsächlich schon einen Schritt weiter gegangen. Mein nächstes Buch, das im Frühjahr 2010 erscheinen wird, enthält einen Text über die Finanzkrise, die freilich ein spröder Stoff ist. Wenn man einen Roman darüber schreiben würde, fände ich es wichtig, dass es nicht bei einer moralischen Machterzählung bleibt, sondern dass auch versucht wird, mit den irrsinnigen Zusammenhängen in diesem Thema umzugehen. Dafür bräuchte man wahrscheinlich Schriftsteller wie William Gaddis oder Thomas Pynchon.
Es wurde bereits sehr viel über die Krise geschrieben. Hat sie Ihnen jemand erklären können?
Ich finde schon, dass es einige gibt, die Erklärungen gefunden haben, wie etwa der "Financial Times Deutschland"-Mitbegründer Lucas Zeise in seinem Buch "Ende der Party". Man muss natürlich wissen, wo die Autoren stehen, ob sie aus der neoliberalen oder marxistischen Ecke kommen. Ich halte es eher mit der linken Kritik. Ich habe etwa Krisentheoretiker wie Robert Kurz gelesen, die die Krise aus einer größeren zeitlichen Perspektive betrachten. Am Anfang war ich sehr ehrgeizig, alles zu verstehen, andererseits ist meine Aufgabe als Autorin ja keine wirtschaftswissenschaftliche. Wenn ich beginne, didaktisch vorzugehen, wird es für die Kunst heikel.
Sie haben sich in den letzten Jahren vermehrt der Theaterliteratur gewidmet. Warum?
Ins Theater bin ich vor neun Jahren eingestiegen. Das Reizvolle daran ist, produktive Arbeitszusammenhänge herzustellen. Ein gelungener Theaterabend ist eine tolle Sache. Aber es dauert, bis man das Medium Theater entdeckt und seinen Weg darin erkundet hat. Die meisten meiner Texte stehen zwischen Prosa und Theater.
Welche Rolle bleibt denn einem Autor im Theater? Ist er der bloße Vorlagenlieferer oder mehr?
Die bloße Vorlage ist ja schon sehr viel. Ich halte es für sinnvoll, dass Schauspieler, Dramaturgen und Regisseure auf meinen Text reagieren. Wenn ich einen Theatertext schreibe, dann stelle ich Fragen in den Raum. Die Antworten dazu will ich nicht auch noch liefern. Ich hoffe halt, dass ich auf Menschen treffe, die Lust haben, Antworten zu suchen. Ich fände es furchtbar langweilig und öde, einen Text zu schreiben, der den Schauspielern vorschreibt, was sie zu tun haben.
Daniel Kehlmann hat in seiner Eröffnungsrede der heurigen Salzburger Festspiele das Regietheater sehr stark angegriffen. Wie stehen Sie dazu?
Ich habe da eine ganz andere Position. Ich finde es eigentlich nur interessant, wenn etwas mit dem Text gemacht wird. Man muss dem Theater Raum lassen. Man kann als Autor nicht alles selbst bestimmen. Das ist nicht der Sinn von Theater.
Sie sind seit einem Jahr Mutter. Hat sich Ihr Schreiben dadurch verändert?
Hauptsächlich hat sich die zeitliche Organisation geändert, gewisse Abläufe im Schreibprozess, aber sonst eher nicht. Interessant ist, dass ich gewisse Geschichten nicht mehr aushalte, etwa wenn es um Gewalt an Kindern geht. Da ist ein inneres Tabu entstanden, ein Schutzmechanismus. Ich bin gespannt, wie ich damit umgehen werde. Interessant ist die Infantilisierung unserer Gesellschaft. Einerseits werden Kinder idealisiert, andererseits pathologisiert, gleichzeitig aber werden sie ignoriert und zugerichtet. Das ist ein spannendes Thema.
Sie leben seit 17 Jahren in Berlin. Wie hat Deutschland Sie verändert?
In gewisser Weise fühle ich mich in Deutschland als Intellektuelle wohler als in Österreich, wo autoritäre Strukturen fortleben und die Medien sich in den Händen weniger konzentrieren. Diese ständige Konfrontation mit faschistoid konnotierten Aussagen auf höchster Ebene würde mich aufreiben. Man muss sich an dem Faschismus-Gespenst in Österreich auf einer ganz anderen Ebene abarbeiten als in Deutschland.
Zur Person
Kathrin Röggla, 1971 in Salzburg geboren, übersiedelte 1992 nach Berlin, wo sie seitdem lebt. Ihr Debüt "Niemand lacht rückwärts" (1995) machte sie bekannt. Andre bekannte Bücher von ihr sind die Prosabände "Irres Wetter" (2000), "really ground zero" (2001), in dem sie die Erlebnisse der Terroranschläge des 11. September in New York verarbeitete, und "wir schlafen nicht" (2004), das im Milieu der Wirtschaftsberater spielt. 2009 sind ihre Japan-Erzählung "tokio. rückwärtstagebuch" (zusammen mit Oliver Grajewski) und der Essay "disaster awareness fair" erschienen. Am 15. Oktober kommt ihre Krisengroteske "worst case" im Wiener Schauspielhaus heraus. Röggla hat schon etliche Preise erhalten, zuletzt den Anton-Wildgans-Preis (2009).
Peter Landerl, geboren 1974 in Steyr, ist Literaturwissenschafter und arbeitet als Lektor an der Marc Bloch-Universität in Straßburg.