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Katyn - ein Kampf um die Wahrheit

Von Gerald Wolf

Wissen

Vor 80 Jahren gab das Deutsche Reich den Fund von tausenden Leichen polnischer Offiziere bekannt.


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Am 13. April 1943 meldete die offizielle Presseagentur des Deutschen Reiches in der für sie typischen Diktion einen "grauenvollen Fund". Nahe der russischen Stadt Smolensk sei in einem Waldstück beim Ort Katyn "eine Massenhinrichtungsstätte der Bolschewisten entdeckt" worden. Die bereits geöffneten Gräber hätten den "einwandfreien Aufschluss" darüber ergeben, dass hier im Frühjahr 1940 "im Auftrage Stalins von (...) jüdisch-bolschewistischen Mördern" über 10.000 polnische Offiziere "durch Genickschuss" getötet worden seien.

Joseph Goebbels, der deutsche Reichspropagandaminister, notierte dazu am nächsten Tag in sein Tagebuch, dass dieser Fund "nun in größtem Stil in der antibolschewistischen Propaganda eingesetzt [wird]". Weiter hieß es: "Wir haben (...) Journalisten [neutraler Staaten] und polnische Intellektuelle an die Fundstellen führen lassen. (...) Ich gebe die Anweisung, dieses Propagandamaterial in weitestem Umfang auszunutzen."

In den folgenden Tagen wies er seine Mitarbeiter an, dass im Hinblick auf die internationale Öffentlichkeit vor allem unterstrichen werden sollte, welche Verbrecher sich die Westalliierten als Partner im Krieg gewählt hatten. Ebenso sei zu zeigen, was zu erwarten sei, "[w]enn der Bolschewismus sich über Europa wälzt". Im allerbesten Fall, so die Hoffnung von Hitlers Chefpropagandisten, ließ sich solcherart sogar ein Bruch der Koalition Großbritanniens und der USA mit der Sowjetunion herbeiführen.

Befehl aus Moskau

Die Offiziere, um die es ging, waren ab dem 17. September 1939 in die Hände der Roten Armee gefallen. An diesem Tag, etwas mehr als zwei Wochen nach dem deutschen Angriff auf Polen, waren sowjetrussische Streitkräfte auf breiter Front in den noch unbesetzten Ostteil des Landes einmarschiert. Josef Stalin nahm damit - gemäß den Vereinbarungen des geheimen Zusatzabkommens des Hitler-Stalin-Pakts vom 23. August 1939 - einen Teil der ihm zugesagten "Interessenssphäre" in seinen Besitz.

Gegenüber den völlig überraschten Vertretern Polens und der Weltöffentlichkeit war dieser Einmarsch damit begründet worden, dass der polnische Staat de facto nicht mehr existent sei. Daher müsse die Sowjetunion die dort lebenden weißrussischen und ukrainischen Minderheiten unter ihren "Schutz" stellen.

© Ziegelbrenner / CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0) / via Wikimedia Commons

Unter den von der Roten Armee gemachten Gefangenen befanden sich über 14.000 Angehörige gebildeter Schichten, die überwiegend als Offiziere der Reserve zur Armee eingezogen worden waren. Bis zu 10.000 weitere Angehörige der Eliten wurden in den folgenden Monaten der sowjetischen Besatzung verhaftet.

Sie galten nach sowjetischer Einschätzung als "eingeschworene und unbelehrbare Feinde der Sowjetmacht", weswegen Lawrentij Berija, der Leiter des "Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten" (NKWD) der UdSSR, am 5. März 1940 in einem Brief an Stalin ihre Erschießung vorschlug. Stalin und die Mitglieder des Politbüros stimmten dem zu. Die Leichen der im April und Mai 1940 erschossenen Offiziere wurden schließlich in Katyn sowie nahe Twer und Charkiv in der Ukraine in Massengräbern verscharrt.

Die Staats- und Regierungschefs der Westalliierten brachten die deutschen Enthüllungen über Katyn in eine heikle Situation. Einerseits bot der barbarische Charakter des deutschen Regimes mehr als genug Anlass dazu, ihren Wahrheitsgehalt anzuzweifeln; andererseits lag seit Ende April 1943 das Gutachten einer von den Deutschen gebildeten Expertenkommission zu den Massengräbern von Katyn vor, das nicht ohne Weiteres ignoriert werden konnte.

Neben prominenten Medizinern der mit dem Reich verbündeten und von ihm besetzten Staaten gehörte dieser Kommission auch der angesehene Schweizer Gerichtsmediziner François Naville an. Dem Gutachten der Kommission zufolge kamen als Täter von Katyn nur die Sowjets in Frage. Weder war die Kommission während ihrer Arbeit wesentlichen Einschränkungen unterworfen gewesen, noch waren ihre Mitglieder genötigt worden, sich vor den deutschen Propagandakarren spannen zu lassen.

Selbst Winston Churchill sprach im vertrauten Kreis offen aus, dass er die "Bolschewisten (...) der schlimmsten Gräueltaten für fähig" halte. Mit dieser Einschätzung stand er eindeutig im Gegensatz zu US-Präsident Franklin D. Roosevelt. Er glaubte, "Uncle Joe" - wie er Stalin nannte - vertrauen zu können.

Letztlich entschieden sich beide Politiker gegen die Wahrheitsfindung und für die Realpolitik. Zu wichtig war Stalins Sowjetunion als Bündnispartner im Krieg gegen Hitlerdeutschland. Die Ostfront band seit 1941 rund 70 Prozent der Streitkräfte der deutschen Wehrmacht und der Waffen-SS. Ein potentieller Wegfall dieses Kriegsschauplatzes hätte für die Westalliierten unabsehbare Folgen gehabt. Folglich verbot es sich, wegen Katyn einen Konflikt mit Stalin zu riskieren; und auch nur in Betracht zu ziehen, dass Propagandaminister Goebbels mit seinen Behauptungen recht haben könnte, war völlig ausgeschlossen.

Lügen und vertuschen

Die Öffnung der Massengräber 1943.
© Public domain / via Wikimedia Commons / unknown, probably Polish Red Cross delegation

Die Sowjetführung wiederum drehte angesichts der deutschen Enthüllungen den Spieß einfach um. Eine im Jänner 1944 eingesetzte und ausschließlich aus Sowjetbürgern gebildete Kommission beschuldigte die Deutschen der Urheberschaft des Verbrechens von Katyn. Dementsprechend sollte es im Rahmen des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals den Deutschen angelastet werden.

Der Versuch, sich damit für alle Zeit von der eigenen Schuld reinzuwaschen, scheiterte allerdings an der polnischen Exilregierung. Obwohl sie inzwischen von den Westalliierten zugunsten des Bündnisses mit Stalin de facto fallen gelassen worden war und jeglichen Einfluss auf die Nachkriegsordnung Polens verloren hatte, nutzte sie die sich bietende Gelegenheit, die Brutalität des Sowjetregimes zu demonstrieren.

Der Bericht ihrer im Dezember 1944 zu Katyn eingesetzten Untersuchungskommission lag im Februar 1946 erstmals auf Englisch vor. Er speiste sich aus einer Vielzahl von Quellen und legte die Täterschaft des NKWD quasi unausweichlich nahe. Sein Inhalt wurde einem der Verteidiger der deutschen Kriegsverbrecher und dem US-amerikanischen Hauptankläger Robert H. Jackson zur Kenntnis gebracht, woraufhin die Sowjets Katyn als Anklagepunkt fallen lassen mussten.

Seit 1948 lag der Bericht der polnischen Kommission als Buch vor und war die Basis für eine ganze Reihe von Katyn-Publikationen der Nachkriegszeit. Diese wurden meist von Polen verfasst, die in Opposition zur von Stalin eingesetzten Regierung der neu gebildeten polnischen Volksrepublik standen. Diplomatische Zurückhaltung bei der Frage der Täterschaft war angesichts des sich vertiefenden Kalten Krieges zwischen den Staaten des Westens und des Ostblocks nun keine mehr nötig.

Dennoch vermieden es die westlichen Regierungen weiterhin, die Sowjets als Täter von Katyn zu benennen. Das hing auch damit zusammen, dass nach wie vor kein Tötungsbefehl Stalins vorlag und es keine überführten Täter gab. Weit gewichtiger aber war die Tatsache, dass Katyn untrennbar mit der Unperson Joseph Goebbels verbunden war. Der fehlende Tötungsbefehl ließ immer noch einen Restzweifel an seiner Version der Ereignisse. Es konnte nicht völlig ausgeschlossen werden, dass Katyn ein deutsches Verbrechen gewesen war.

In der UdSSR brachte selbst die auf den Tod Stalins folgende "Tauwetter"-Periode keine Änderung im Umgang mit Katyn. Als einstigem engen Mitarbeiter Stalins schien es seinem Nachfolger Nikita Chruschtschow wohl zu gefährlich, sich dieses Themas anzunehmen. Es blieb bei der Unterdrückung der Wahrheit und der stalinistischen Version von Katyn.

Dementsprechend musste auch in Polen jeder Hinweis auf dieses Thema im öffentlichen Diskurs unterbleiben. Das unterhöhlte die Glaubwürdigkeit der polnischen KP-Machthaber. Im Namen der Wahrheit bot sich der systemkritischen Öffentlichkeit eine permanente Gelegenheit, die Unmoral des Sowjetsystems und die Feigheit seiner polnischen Statthalter anzuprangern.

Der polnische Präsident Lech Kaczyński in Katyn am 17. September 2007. Bei einem weiteren Besuch drei Jahre später starb er bei einem Flugzeugabsturz.
© Archiwum Kancelarii Prezydenta RP / GFDL 1.2 (https://gnu.org/licenses/old-licenses/fdl-1.2.html) / via Wikimedia Commons

Erst in Zeiten von Glasnost und Perestrojka durfte Katyn endlich thematisiert werden. Im April 1990 gestand Michail Gorbatschow erstmals die Schuld der Sowjetunion ein. Noch im selben Jahr ordnete er eine strafrechtliche Untersuchung an und entschuldigte sich beim Volk Polens für das Verbrechen. Die Veröffentlichung des Tötungsbefehls brachte aber auch er nicht fertig. Das tat erst 1992 der erste russische Präsident Boris Jelzin. Damit schien es möglich, die historischen Streitfragen zu Katyn und dem völlig unterschiedlichen Stellenwert, den die UdSSR bzw. Russland sowie das neue demokratische Polen der Geschichte des Zweiten Weltkriegs zuwiesen, beizulegen.

Offene Wunde

2000 wurde in Katyn ein polnischer Militärfriedhof als Gedenkort angelegt. Dann aber stellte die russische Militärstaatsanwaltschaft 2004 die Untersuchungen zu Katyn ein und sperrte den Großteil der Akten für die Öffentlichkeit. Das Verbrechen von Katyn sei bereits verjährt, Stalin und die Mitglieder des Politbüros als allein Verantwortliche seien tot, weitere Nachforschungen daher sinnlos. Die Empörung Polens über diesen Schritt wurde in Russland mit völligem Unverständnis aufgenommen.

In dieser Phase eines neuen Tiefpunkts der Beziehungen zwischen den beiden Ländern stürzte am 10. April 2010 die polnische Präsidentenmaschine am Flughafen von Smolensk ab. Alle 88 Passagiere, darunter der Präsident und hochrangige Vertreter der Republik Polen, kamen dabei ums Leben. Es war eine grausame Ironie der Geschichte, dass sie alle zu einer Gedenkveranstaltung anlässlich des 70. Jahrestags des Massakers von Katyn kommen wollten.

Mit dem Unglück kehrte auch das Verbrechen von 1940 wieder weltweit in die Schlagzeilen zurück. Die gemeinsame Trauer verband die Menschen in Russland und in Polen wie nie zuvor. Die Politiker beider Länder fanden aber - abgesehen von schönen Gesten - nicht weiter zueinander und entfernen sich angesichts der jüngsten Ereignisse in der Ukraine mehr und mehr voneinander. In den polnisch-russischen Beziehungen bleibt Katyn daher - so der Historiker und CIA-Mitarbeiter Benjamin B. Fischer - "eine Wunde, die sich gegen Heilung wehrt".

Gerald Wolf lebt und arbeitet als Historiker und Lehrer in Wien.