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Katzenjammer nach der Wahl

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik

An der Wahlurne schadete Erdogans Partei AKP weder das Twitter-Verbot noch der darunter liegende Korruptionsskandal.


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Istanbul. Das Wort Katzenjammer trifft die Stimmung vieler Istanbuler gut, die am Montagmittag die Frühlingssonne in den Cafés am zentralen Taksim-Platz genießen. Es ist der Tag nach den türkischen Kommunalwahlen, bei denen die in Ankara regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan einen unerwartet großen Sieg feierte. "Die Sonne scheint, aber es ist ein schwarzer Tag für die Türkei", sagt Alper Kolcak, 32-jähriger IT-Experte mit sorgfältig gestutztem Bart. "Ich hatte erwartet, dass die AKP gewinnt, aber das Ausmaß ihres Wahlsiegs ist ein Schock. Die nächsten Monate werden finster. Adieu Demokratie."

Trotz massiver Korruptionsvorwürfe gegen seine Regierung und zahlreicher im Internet veröffentlichter Tonmitschnitte, die den Premier als Autokraten zeigen, der wenig Rücksicht auf demokratische Gepflogenheiten nimmt, kam Erdogans islamisch-konservative AKP bei der Wahl am Sonntag nach Auszählung von etwa 98 Prozent der Stimmen landesweit auf mehr als 45,5 Prozent. Das sind fast 7 Prozentpunkte mehr als vor fünf Jahren. Die AKP verteidigte nicht nur die Bürgermeisterämter in den größten Städten Istanbul und Ankara gegen starke Herausforderer aus der sozialdemokratischen Republikanischen Volkspartei (CHP). Sie erklärte sich auch zur Siegerin in der bisher von einem CHP-Bürgermeister regierten Touristenhochburg Antalya.

Dagegen konnte sich die CHP trotz der für sie idealen Ausgangslage nur leicht um 5 Prozentpunkte auf landesweit knapp 28 Prozent der Stimmen verbessern. Die nationalistische MHP, deren Hochburgen wie jene der CHP vor allem in der Westtürkei liegen, konnte vom Korruptionsskandal ebenfalls kaum profitieren und erreichte wie zuvor rund 16 Prozent. In den überwiegend kurdischen Städten im Südosten der Türkei wurde erneut die Kurdenpartei BDP stärkste Kraft; sie legte auf rund 8 Prozent landesweit zu und regiert nun in 11 der 14 kurdischen Provinzen.

Nach Auszählung von knapp zwei Dritteln der Stimmen trat Erdogan am Sonntag gegen Mitternacht auf den Balkon seiner Residenz in Ankara. In einer aggressiven Rede drohte er seinen politischen Widersachern, sie "bis in ihre Höhlen zu verfolgen" und riet ihnen, besser vorher aus dem Land zu fliehen. Erdogan macht die reformislamische Gülen-Bewegung für die Korruptionsvorwürfe und brisanten Audioaufnahmen verantwortlich, die seit Monaten im Internet publiziert werden und seine Regierung schwer belasten. Obwohl er selbst überhaupt nicht zur Wahl stand, hatte Erdogan die Kommunalwahlen zum Referendum über seine Politik und die Korruptionsvorwürfe erklärt. Das Ergebnis nannte er einen "großen Sieg", auch wenn es knapp 4 Prozentpunkte unter dem Resultat der Parlamentswahlen von 2011 liegt. In den nächsten Tagen will er entscheiden, ob er als Kandidat bei den Wahlen zum Staatspräsidenten im August antritt.

Sperre der sozialen Netzwerke

Der oppositionelle Bürgermeisterkandidat für Istanbul, Mustafa Sarigül, räumte seine Niederlage ein. Er sagte, die Wahlen hätten ein Meilenstein für die Demokratie sein können, wenn es nicht die Sperre der sozialen Netzwerke, Desinformation seitens der Regierung und seltsame Stromausfälle am Wahlabend gegeben hätte. Der MHP-Vorsitzende Devlet Bahçeli sagte, Erdogan setze weiter auf eine Polarisierung der Gesellschaft, aber sein Sieg bedeute keinesfalls, dass die Korruptionsvorwürfe gegen ihn nun vom Tisch seien.

Die Kommunalwahlen waren auch der erste politische Stimmungstest in der Türkei nach den landesweiten Gezi-Protesten des vorigen Sommers. Der Istanbuler Architekt Cem Tüzün, einer der Aktivisten der Taksim-Gezi-Solidaritätsgruppe, war in der Wahlnacht für 6000 freiwillige Wahlbeobachter im innerstädtischen Szenebezirk Beyoglu verantwortlich. "Mich hat nur die Höhe des AKP-Siegs überrascht, nicht der Sieg selbst", meint er. Warum? "Weil die AKP der einzige Player war. Die anderen haben alle nur auf Erdogan reagiert. Sie haben die Botschaft des Gezi-Parks nicht begriffen, dass wir eine neue Politik brauchen."

Erdogan dagegen habe es verstanden, die Kommunalwahlen zur Abstimmung über seine Person zu machen, und damit gewonnen, erklärt der in Istanbul lebende britische Türkei-Experte Gareth Jenkins. "Das Resultat ist extrem beunruhigend." Demokratie, Gewaltenteilung und die Herrschaft des Gesetzes seien für die Regierung nicht mehr wichtig, meint Jenkins. Während Erdogan nach früheren Wahlsiegen versöhnliche Reden gehalten habe, kenne er jetzt nur noch Angriff und Rache. "Das führt zu einer sehr gefährlichen Spaltung der Gesellschaft. Erdogan scheint nicht wahrzunehmen, dass er zwar 45 Prozent der Bürger vertritt, aber 55 Prozent ihn nicht gewählt haben." Erdogan glaube, "wie der ägyptische Muslimsbruder-Präsident Mursi, dass ein Sieg bei Wahlen ihm das Recht gibt, zu tun und zu lassen, was immer er will. Früher wäre jetzt der Punkt erreicht, wo das Militär einschreitet, aber das hat Erdogan ja ausgeschaltet", erklärt Jenkins.

Am Montagmittag macht im Gezi-Park ein 40-jähriger türkischer Geschäftsmann einen Spaziergang in der Sonne. Er habe für Erdogan gestimmt, erklärt der untersetzte Mann mit der modischen Sonnenbrille, und sei stolz, denn "die Türkei hat gewonnen". Ihn habe der hohe AKP-Sieg nicht überrascht. "Wenn Erdogan in einem Rennen ist, haben die anderen keine Chance. Er sollte nicht nur Präsident, er sollte Sultan werden."

Vor allem sei das Resultat gut fürs Geschäft, sagt er dann. "Alle haben auf diese Wahl gewartet, um zu sehen, wie stark Erdogan ist. Es hat sich gezeigt, dass er stärker ist als zuvor. Jetzt kehrt wieder Ruhe ein, jetzt werden die Kunden wieder kaufen." Die Finanzmärkte sahen es ähnlich. Türkische Aktien und Staatsanleihen legten am Montag ebenso zu wie die Landeswährung Lira.