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Kaufen, bis das Konto kracht

Von Brigitte Suchan

Wissen

Jeder kennt das: Nach dem Ärger im Büro oder zu Hause geht man in das nächstbeste Geschäft und "gönnt" sich was. Solche "Frustkäufe" haben psychisch die Funktion, Defizite und Frustrationen kurzfristig auszugleichen und Problemen auszuweichen. Das kann ganz bewusst geschehen und ist grundsätzlich eine durchaus akzeptable Strategie für die Psyche. Gefährlich wird es, wenn Probleme regelmäßig durch Käufe überwunden und Frustkäufe zur Gewohnheit werden.


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In Europa war das Phänomen der Kaufsucht bis in die 1990er Jahre ein weitgehend unbeachtetes und unbekanntes Phänomen. Erst eine Untersuchung an der Universität Hohenheim in Stuttgart Anfang der 90er Jahre hat die Kaufsucht erstmals in Europa als ernsthaftes psychisches Problem erkannt und beschrieben.

Kaufsucht wird von Wissenschaftlern definiert als das "in Anfällen auftretende, süchtige Kaufen von Konsumgütern". Obwohl harmlos klingend, ist diese zunächst nicht leicht zu diagnostizierende Sucht laut Experten anderen stoffgebundenen (z.B. Drogen-, Alkohol-, Esssucht) und stoffungebundenen Süchten (z.B. Arbeits-, Beziehungssucht) sehr ähnlich. Auch bei ihr finden sich die klassischen Suchtsymptome wie u.a. ein unwiderstehlicher Drang, der als stärker als der eigene Wille erfahren wird; eine Abhängigkeit - in diesem Fall vom Kaufen - bis zum Verlust der Selbstkontrolle und schließlich das Auftreten von Entzugserscheinungen.

Kaufsucht ist eine eher unauffällige Sucht. "Das Suchthafte daran bleibt oft lange unerkannt, und zwar sowohl von Süchtigen selbst als auch von der Umwelt. Kaufen ist gesellschaftlich nicht nur gebilligt, sondern erwünscht," ist in der Hohenheimer Studie zu lesen. Kaufen wird zudem als Symbol für selbständiges, kompetentes Entscheiden empfunden.

Betroffen sind laut Experten alle Einkommens-, Bildungs- und Altersgruppen. Jüngere Konsumenten sind etwas stärker kaufsuchtgefährdet als ältere, Frauen mehr als Männer.

Der gesellschaftliche Einfluss beim Entstehen der Kaufsucht ist nicht zu unterschätzen: Konsumieren und Kaufen spielt in unserer heutigen Konsumgesellschaft eine zentrale Rolle. Konsumgüter sind überdies stark symbolisch überhöht. Wer Designerfummel trägt, hat etwas erreicht im Leben, denn er kann sich leisten, was auch Stars und Prominente mit einem zigfach höheren Einkommen kaufen - und sich dabei auch noch identifizieren mit seinem Idol.

Kaufzwang bald als Krankheit anerkannt?

Kaufzwang könnte britischen Medien zufolge bald als psychisches Leiden anerkannt werden. Shopaholics, zu denen die "Sunday Times" Elton John oder Victoria Beckham zählt, könnten sich dann medizinisch behandeln lassen.

Die Zahl der Menschen, die mit Einkäufen unter anderem Depression oder Frustration betäuben, werde immer größer, berichtete die Zeitung. Deshalb sprächen sich Experten dafür aus, diese "Einkaufswut" offiziell als Krankheit zu betrachten. "Es handelt sich ganz klar um eine Störung, und es kann nur von Vorteil sein, sie auch als solche anzuerkennen", sagte Helga Dittmar von der Universität Sussex der Zeitung.

Studien zeigten, dass zwischen zwei und zehn Prozent der Erwachsenen unter "zwanghaften Einkaufstendenzen" litten, wobei Frauen neun Mal mehr als Männer davon betroffen seien. Die Zeitung bezog sich auf eine weitere Untersuchung, wonach die Hälfte aller 14- bis 18-jährigen weiblichen Teenager in Spanien, Italien und Schottland Zeichen von "Shopping-Abhängigkeit" zeigten.

"Es gibt keinen Zweifel daran, dass viele Frauen Einkaufen als Ersatzform der Befriedigung benutzen", sagte Glenn Wilson vom Institut für Psychiatrie in London. Frauen, die unglücklich sind, sich langweilen oder zu wenig beachtet werden, gingen einkaufen, hieß es. Männer griffen in solchen Fällen eher zur Flasche.

Es gibt aber Ausnahmen: Popstar Elton John soll ein männlicher Shopaholic sein und innerhalb von 20 Monaten umgerechnet rund 20 Mill. Euro ausgegeben haben. Der Bericht nannte auch Ex-Spice-Girl Victoria Beckham, die nach dem Transfer ihres Mannes David zum Fußballclub Real Madrid schnurstracks eine Christian-Dior-Boutique in der spanischen Hauptstadt angesteuert habe. Doch während sich diese beiden den Drang zum Geldausgeben leisten könnten, säßen viele Shopaholics wegen ihres Leidens bis zum Hals in Schulden, schreibt das Blatt.

Die Sozialforscherin Tamira King von der britischen Brunel-Universität spricht in dem Zusammenhang von einer Kauf-Bulimie. Sie fand bei einer Befragung von 530 Frauen heraus, dass mehr als die Hälfte an der Kaufsucht mit anschließenden Reuegefühlen leiden. Oft würden die Artikel - beispielsweise teures Designer-Outfit oder ein Großbildfernseher - nach einmaliger Verwendung wieder zurückgebracht - häufig mit tiefem Schuldgefühl.

John Dean von der Vereinigung britischer Geschäfts-und Kaufhausbesitzer sagte dem "Daily Telegraph": "Ich fürchte, es wird noch viel schlimmer werden. Immer mehr Frauen mit bescheidenem Budget wollen Designer-Label tragen. Die Shopping-Bulimie erlaubt ihnen das."

Erstmals Therapie für Kaufsüchtige in Deutschland

Am Universitätsklinikum Erlangen wird erstmals in Deutschland eine spezielle Therapie für Menschen mit Kaufsucht angeboten. In einem Modellprojekt mit etwa 60 freiwilligen Teilnehmern solle vom kommenden Jahr an erforscht werden, ob Betroffenen mit einer Verhaltenstherapie nachhaltig geholfen werden kann, erklärte die Leiterin der psychosomatischen Tagesklinik in Erlangen, Astrid Müller.

Studien zufolge sind in den alten deutschen Bundesländern etwa sechs Prozent der Bevölkerung stark kaufsuchtgefährdet, in den neuen Ländern zwei Prozent. "Das Problem geht durch alle Gesellschaftsschichten und Altersgruppen", erklärte die Psychologin. Dabei seien deutlich mehr Frauen als Männer betroffen. Auch die Wahl der Konsumgüter sei unterschiedlich: Während sich Frauen vor allem mit Kleidung, Schuhen, Kosmetik, Lebensmitteln und Haushaltsgeräten eindeckten, favorisierten Männer eher moderne Technikartikel, Sportgeräte, Autozubehör und Antiquitäten.

"Die Betroffenen kaufen ein, um damit Stimmungen zu kompensieren", erklärte Müller. Dabei schafften sie sich häufig Waren an, die sie entweder überhaupt nicht brauchen oder bereits besitzen. "Es werden Dinge gekauft, die hinterher nicht einmal ausgepackt werden", schilderte die Expertin. Einige verschenkten ihre Einkäufe auch weiter oder horteten sie. Viele gestehen sich ihr zwanghaftes Kaufverhalten jedoch nicht ein, so dass dadurch nicht nur soziale Schwierigkeiten, sondern auch erhebliche finanzielle Probleme entstehen können. "Das reicht bis zum Konkurs", schilderte Müller.

Als Hauptmotive für krankhaftes Kaufen nannte die Psychologin Unsicherheit und mangelndes Selbstwertgefühl. Es gebe jedoch keinen Stereotyp des "Shopaholic". "Das Spektrum der Kaufsucht ist weit gestreut", erläuterte die Psychologin. "Manche genießen schon alleine den Kontakt mit dem Verkaufspersonal während ihrer Kaufhandlung, da sie dabei Zuwendung und Aufmerksamkeit erfahren." Andere wiederum zögen ihren Lustgewinn aus dem schieren Besitz schöner Waren, für die sie beneidet werden oder aus der Dankbarkeit ihrer Mitmenschen, wenn sie diese beschenken.

Anfang des kommenden Jahres soll nun untersucht werden, inwieweit Betroffenen in einer ambulanten Gruppentherapie geholfen werden kann. "Bisher wird so etwas in Deutschland nicht angeboten", erklärte Müller. Die Behandlung in der Abteilung für Psychosomatik und Psychotherapie ist auf drei Monate angelegt. Während dieser Zeit sollen die freiwilligen Teilnehmer einmal wöchentlich zu einer Sitzung zusammen kommen. Nach einem halben Jahr soll kontrolliert werden, ob die Betroffenen nach Abschluss der Therapie geheilt sind.