Trotz neuer Friedensverhandlungen droht der isolierten armenischen Exklave Bergkarabach jederzeit die Eskalation.
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"Achtung! Sie betreten das Territorium der Republik Aserbaidschan!", steht auf einem Straßenschild im armenischen Niemandsland. In drei Sprachen, Aserbaidschanisch, Russisch und Englisch, damit die Warnung auch ankommt. Fragt sich nur bei wem, denn die Hauptstraße M2 von Goris nach Kapan im Südosten Armeniens ist seit zwei Jahren geschlossen.
Im Mai 2021 hatte die aserbaidschanische Armee Teile der armenischen Provinzen Sjunik und Gegharkunik erobert. Von den hunderten Lkw täglich, die zuvor über die M2 Richtung Iran oder zurück rumpelten, ist seitdem nichts mehr zu sehen.
So schnell werden sie auch künftig nicht hier fahren, denn die Spannungen zwischen Armenien und Aserbaidschan nahmen in den letzten Monaten stark zu. Immer wieder kam es zu Schusswechseln mit Verletzten und Toten auf armenischem Staatsgebiet. Seit Anfang Mai finden nun wieder Friedensverhandlungen unter internationaler Vermittlung statt. Sie blieben bisher aber ohne Erfolg.
Und all das, obwohl Armeniens Premier Nikol Paschinjan zu früher undenkbaren Zugeständnissen bereit ist. Armenien würde die Ansprüche auf seine Exklave Bergkarabach, die völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört, fallen lassen. Offen bleibt die Frage, was mit den rund 100.000 dort lebenden ethnischen Armeniern geschehen soll. Der Politologe Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik sieht "hohes Eskalationspotenzial".
Nicht wenige fürchten einen neuen Krieg seitens des militärisch hochgerüsteten Aserbaidschans in Bergkarabach oder sogar in Armenien selbst. Was bezweckt Aserbaidschan? Und wie soll dieser Konflikt, der seit 30 Jahren immer wieder blutig eskaliert, je enden?
Erpressung Aserbaidschans?
Der Zeitpunkt der jüngsten Zuspitzung ist kein Zufall: Seit Beginn des Ukrainekriegs ließ Moskau einen Teil seiner 2.000 Friedenssoldaten sowie des Militärgeräts abziehen. Kaukasus-Experte Meister zufolge nutzt Aserbaidschan das entstandene Vakuum, um mit Angriffen seine Verhandlungsposition zu stärken.
Eine neue Qualität hat der Konflikt Mitte Dezember erreicht, als vorgebliche Umweltaktivisten die einzige verbliebene Straße von Armenien nach Bergkarabach blockierten. Seither sind die Bewohner Bergkarabachs von der Außenwelt abgeschnitten. Mittlerweile wurden die Blockierenden, die nie zuvor als Umweltaktivisten in Erscheinung getreten sind, von aserbaidschanischen Soldaten abgelöst.
Gut möglich, dass es sich dabei um einen Erpressungsversuch Aserbaidschans handelte. Zu Bakus langjährigen Forderungen zählt eine andere Straßenverbindung 50 Kilometer weiter südlich: vom Südwesten Aserbaidschans in dessen eigene Exklave Nachitschewan. Dieser Korridor müsste durch Armenien führen.
Armeniens Premier Nikol Paschinjan, Revolutionsführer 2018 und erster vollends demokratisch gewählter Staatschef, hätte prinzipiell kein Problem damit. Wohl aber mit der Bedingung Bakus, dass diese Verbindung extraterritorial sein müsse. Viele Armenier fürchten eine Zweiteilung ihres Landes.
Humanitäre Katastrophe
Leidtragende des Konflikts sind vor allem die Bewohner Bergkarabachs, zum größten Teil ethnische Armenier. Seit Beginn der Blockade fehlt es an Lebensmitteln, Medikamenten, Baumaterialien, Tausende verloren ihre Jobs. Immer wieder kommt es zu Stromausfällen.
Dass Aserbaidschan zuletzt mit dem Militär auffuhr und eine Grenzstation errichten ließ, spricht nicht für eine baldige Lösung. Die Bewohner können ja bleiben und friedlich mit den Aserbaidschanern zusammenleben, sagt deren autoritärer Präsident Ilham Alijew. Aufgrund des beidseitigen Hasses und des enormen Kräfteungleichgewichts zugunsten Aserbaidschans ist dies nicht zu erwarten.
Nicht nur militärisch, auch rhetorisch gießt Alijew Öl ins Feuer. Mitte April sagte er, die Führung in Bergkarabach bestehe aus "Clowns" und "Blutsaugern". "Wenn wir unseren Willen neuerlich beweisen müssen, werden wir das tun - mit allen Mitteln."
In den vergangenen Jahren war es die Präsenz Russlands, die Baku vor solchen Schritten zurückschrecken ließ. Aber schon bei der letzten großen Angriffswelle auf armenisches Territorium im September hielten sich die Russen heraus. Der Angriff auf mehrere armenische Orte erfolgte mit Artillerie und Drohnen und forderte hunderte Tote in nur drei Tagen. Die Folgen des Beschusses sind bis heute zu spüren.
Etwa in Dschermuk, in ganz Armenien bekannt als Kur- und Wintersportort. Früher kamen 30.000 Touristen pro Jahr, tranken das dortige Thermalwasser und besuchten den Wasserfall. Doch letzten Winter blieben die altehrwürdigen Kurhotels leer. "Alle sind verängstigt", sagt Armen Tadevosjan. Er ist Betreiber der hiesigen Seilbahn, die im September beschossen wurde.
Sein Restaurant lag in Trümmern, wurde von seiner Familie rasch wieder aufgebaut. Nur noch Löcher an der rückwärtigen Mauer zeugen von den Schäden. Allein: Die Gäste fehlen. Tadevosjan fürchtet, dass es nie mehr so sein wird wie früher. "Wir hätten nie damit gerechnet, angegriffen zu werden." Die Gefahr besteht weiterhin, zur Grenze sind es nur vier Kilometer. Der Seilbahnbetreiber zeigt Richtung Osten, in die Berge. "Da oben steht der Feind."
Auch der agrarisch geprägte armenische Grenzort Sotk ist noch vom Großangriff gezeichnet. Um vier Uhr begann der Beschuss mit Artillerie und Grad-Raketen, erinnert sich Bürgermeister Sevak Khachatajan, 32, als er inmitten von Trümmern am Dorfrand steht.
152 Häuser des 1.200-Einwohner-Orts haben die Aserbaidschaner getroffen. Der Bürgermeister ist froh, dass niemand ums Leben kam, und will alle Häuser wiederaufbauen. Ob aber auch die obdachlos gewordenen Menschen wiederkommen werden, ist fraglich. Am Gemeindeamt zeugen noch Löcher von umherfliegenden Splittern.
Nach wie vor sind Grenzorte wie Dschermuk und Sotk überaus exponiert. Laut Experten hätte die armenische Armee neuerlichen Angriffen nicht viel entgegenzusetzen. Ihr fehlt es an militärischem Gerät, da Russland wegen des Ukrainekriegs kein Material und auch die westlichen Partner Armeniens keine Waffen mehr schickt. Aserbaidschan hingegen wird seit Jahren aus der Türkei versorgt, unter anderem mit den in der Ukraine bewährten Bayraktar-Drohnen.
EU-Beobachter patrouillieren
Das derzeitige Sicherheitsvakuum ermöglichte aber auch anderen stärkere Präsenz. Seit Februar patrouilliert eine hundertköpfige EU-Beobachtermission an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze. Bis vor kurzem war eine solche Mission noch undenkbar, reklamierte doch Russland die Rolle des Friedensgaranten für sich. Nach guten Erfahrungen in Georgien und als Reaktion auf die letzte Eskalation im September reagierte Brüssel rasch.
Zum Leidwesen vieler Armenier ist sie unbewaffnet, hätte einer Eskalation wenig entgegenzusetzen. Nichtsdestotrotz sei sie eine "zusätzliche Sicherheitsschicht", sagt der Deutsche Markus Ritter, der den Einsatz in Armenien leitet. Russland kritisierte zwar, die EU-Mission bringe "geopolitische Konfrontation" und würde "bestehende Gegensätze verschärfen." Hinsichtlich des Mandats und des Kontrollgebiets gibt es aber keine Überschneidungen.
Langfristig gehe es auch darum, Vertrauen auf aserbaidschanischer Seite aufzubauen, sagt Ritter. Vorerst für zwei Jahre sind die Beobachter nun auf armenischer Seite unterwegs, Aserbaidschan hat ihnen kein Mandat erteilt.
Kritik am Westen
Im Zentrum der aktuellen Friedensgespräche steht weiterhin die Frage nach dem Status Bergkarabachs. Diesbezüglich wenig optimistisch ist Kaukasus-Experte Meister. "Ich sehe nicht, dass Aserbaidschan zu den nötigen Zugeständnissen bereit wäre." Es sei nicht auszuschließen, dass es neuerlich zu Vertreibungen, wenn nicht gar Tötungen kommt.
Am Ende werde es auch auf internationalen Druck für eine friedliche Lösung ankommen. Meister begrüßt das europäische Engagement in letzter Zeit, konkrete Verhandlungen in Brüssel Mitte Mai und die EU-Beobachtermission. "Wenngleich die europäische Initiative reichlich spät kommt und mehr Unterstützung durch große Mitgliedstaaten wie Deutschland braucht."
Der Westen muss sich jedoch Kritik gefallen lassen. Erst vor einem Jahr bekräftigte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die verstärkte Zusammenarbeit mit Aserbaidschan. Die Erdgasimporte aus dem Land in die EU werden gerade von 8,1 auf 20 Milliarden Kubikmeter pro Jahr erhöht. Man wolle unabhängig von Putins Russland werden. Nun könnte aber passieren, was Brüssel eigentlich vermeiden wollte: Dass europäisches Geld hilft, die Kriegskassen eines autoritären Regimes zu füllen.
Diese Reportage entstand im Rahmen einer Recherchereise mit der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung.