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Wer es sich leisten kann, packt nun im Winter seine Sachen zusammen und fliegt weg, in ein Land, wo es schön und warm ist. Zu Hause ist es kalt, trüb und grau. Der Urlauber liegt am Strand und genießt die Sonne. Um ihn üppige Natur in den buntesten Farben. Fotos werden gemacht, schließlich will man später eine Erinnerung an diese Zeit haben, wenn der (graue) Alltag einen längst wieder eingeholt hat.
Aber ach, nur selten können die Fotos die Erwartung erfüllen. Sicher, der Strand und das tiefblaue Meer sind gut zu erkennen. Aber das besondere Gefühl, diese Art Ausnahmezustand vermögen sie in der Regel nicht wiederzugeben.
Warum nicht? Was ist schief gelaufen? Der Fehler liegt meist darin, dass bei der Aufnahme eine grundlegende fotografische Regel missachtet wird: Unser Auge nimmt die Umgebung anders wahr als die Kamera. Das menschliche Sehen ist kein isolierter Prozess. Wir freuen uns über die Weite des Strands und die üppige Natur - aber das ist nicht alles: Wir genießen auch die warmen Sonnenstrahlen und das Rauschen des Meeres, riechen die salzhältige Luft, und erst alle Sinneseindrücke zusammen schaffen jenes bekannte erhebende Urlaubsgefühl. Mag sein, dass der visuelle Eindruck in Wirklichkeit gar nicht so überwältigend war und wir gleichsam ein Opfer unserer Sinneseindrücke wurden, die sich gegenseitig potenziert haben.
Das Auge der Kamera erfasst keine Wärme, keine Töne und auch keine Gerüche. Sondern nur den optischen Eindruck. Daher ist das kleine, zweidimensionale Medium schnell überfordert, wenn es darum geht, eine bestimmte Stimmung festzuhalten. Genau darin besteht aber die Herausforderung für den Fotografen: Er hat das Bild so zu komponieren, dass der Betrachter gleichsam das Gefühl erhält, auch das Meeresrauschen zu hören und die Sonnenwärme auf der Haut zu spüren.
Iris und Blende
Dieses Ergebnis ist freilich kaum zu erzielen, wenn der Fotograf im Moment der ersten Gefühlsaufwallung sofort abdrückt, egal, wo er gerade steht und welchen Ausschnitt er wählt. Diese und andere Parameter müssen mit Bedacht gewählt werden, soll die Komposition stimmen.
Das Kamera-Auge arbeitet anders als das menschliche Auge. Dabei überwiegen zunächst die Gemeinsamkeiten. Was im Fotoapparat traditionell der Film und neuerdings die Sensorfläche, der Chip, ist, das ist im Auge die Netzhaut, auch Retina genannt. Auf dieser Netzhaut am hinteren Ende des Augapfels sitzen rund 125 Millionen Rezeptoren, die auf Lichtreize empfindlich reagieren.
Der Retina vorgelagert sind die Hornhaut und die Linse. Sie übernehmen in etwa die Funktion des Objektivs bei der Kamera, sind also für Lichtbrechung und Scharfeinstellung zuständig. Die Linse kann, je nachdem ob der Fokus auf einem Gegenstand in der Nähe oder in der Ferne liegt, ihre Form entsprechend anpassen. Eine Fähigkeit, die allerdings mit dem Alter nachlässt. Ab etwa 45 Jahren beginnt die Linse zu verhärten und der Mensch an Weitsichtigkeit zu leiden. Bleibt noch die Iris, der ringförmige Muskel, der die Pupille umgibt. Sie kann ganz unterschiedliche Farben aufweisen und zieht daher von allen Teilen des Auges in der Regel die größte Aufmerksamkeit (und Bewunderung) auf sich. Das Äquivalent zur Iris ist bei der Kamera die Blende, denn beide regulieren den Lichteinfall. Ist es hell, zieht sich die Iris zusammen und der Durchmesser der Pupille wird klein. Bei der Kamera wird die Blende in Abhängigkeit von der Belichtungszeit eingestellt.
Selektiver Blickwinkel
Soweit die Gemeinsamkeiten. Für die fotografische Praxis sind aber vor allem die Unterschiede interessant. Das menschliche Auge ist ein (vorgelagerter) Teil des Gehirns, die Kamera dagegen bloß ein technischer Apparat, der nicht zum eigenständigen Denken und Handeln fähig ist, mag auch noch so viel Elektronik in ihm stecken.
Das menschliche Auge geht, ohne dass uns das im Einzelnen bewusst würde, selektiv vor: Es sieht nur das, was ihm interessant erscheint, und alles andere blendet es automatisch aus. Oder noch genauer: Wir haben zwei verschiedene Blickwinkel: einen bewusst gerichteten, in dem wir nur zwei bis drei Grad sehen und interpretieren, sowie einen unbewussten von nahezu 180 Grad, in dem wir einen allgemeinen Überblick sowie alle Veränderungen wahrnehmen. Wir erfassen also jede Szene als Panorama, visieren aber nur jene Punkte genau an, die unsere Aufmerksamkeit erregen.
Die Kamera verfährt dagegen wie ein minutiöses Aufzeichnungsgerät: Sie hält im Bild unerbittlich alles fest, was in ihrem Blickfeld liegt - auch die nebensächlichen Dinge, die uns während des Auslösens womöglich gar nicht aufgefallen sind und nun auf dem fertigen Bild massiv stören. Viele glauben, der Sehvorgang ereigne sich in etwa so, wie wir ein Buch lesen: Zeile für Zeile, von links oben nach rechts unten. Doch das ist eine falsche Vorstellung. Unser Sehapparat arbeitet alles andere als gemächlich. Unsere Pupille springt vielmehr dauernd hin und her, von einem Reiz zum anderen - etwa 180 Mal in der Minute -, um Interessantes dort auf der Netzhaut abzubilden, wo Sehschärfe und Farbintensität am höchsten sind: in der sogenannten Sehgrube (Fovea centralis).
Gelenkte Blicke
Das Auge erfasst nur das, was seine Aufmerksamkeit erregt. Das kann ein markanter Farbpunkt in einer gleichförmigen Landschaft sein (rotes Haus in grünem Feld), oder ein Gegenstand, der sich bewegt (vorbeifahrendes Auto). Oder ein Stieglitz, der auf einem Baum sitzt. Ein Ornithologe entdeckt den Stieglitz gewiss sofort, einem anderen Menschen mag er gar nicht auffallen. Wie wir unsere Umgebung betrachten und was uns gleichsam ins Auge sticht, das hängt nicht nur von den äußeren Reizen ab, sondern auch von unseren Interessen und unserer Erwartung - kurz davon, was wir sehen möchten. So sieht jeder Mensch die Welt etwas anders.
Die Lichtreize, die auf die Retina treffen, werden gebündelt und in Form von elektro-chemischen Informationen in einem Nervenstrang zu verschiedenen Hirnarealen weitergeleitet, wo sie entziffert werden. Das geschieht so schnell, in Bruchteilen von Sekunden, dass uns die einzelnen Verarbeitungsschritte gar nicht bewusst werden. Unser Gehirn meldet nur: Das ist ein Tisch. Um das visuelle Erlebnis einordnen und benennen zu können, mussten vorher Form und Farbe und Material analysiert und interpretiert werden. Ob groß oder klein, weiß oder schwarz, Rokoko- oder Jugendstilmöbel - das Gehirn identifiziert sofort den Gegenstand. Möglich gemacht wird das durch eine ungeheure Abstraktionsleistung. Die erfolgt so selbstverständlich, dass wir gerne darüber vergessen, welches Wunder sich da Tag für Tag und Augenblick für Augenblick ereignet.
Nun können unsere Augen völlig in Ordnung sein - und trotzdem sehen wir manchmal nichts, dann nämlich, wenn wir schlafen oder völlige Dunkelheit herrscht. Das scheint ein banaler Hinweis zu sein, doch er verweist auf einige Besonderheiten unseres Sehsinns, nämlich darauf, dass wir im Unterschied zu unseren Ohren, die quasi immer auf Empfang geschaltet sind, ob wir wollen oder nicht, unsere Augen schließen und damit das Sehen willentlich unterbrechen können. Und darauf, dass Licht eine unabdingbare Voraussetzung dafür ist, um überhaupt etwas sehen. Zumindest ist das bei uns Menschen der Fall - Katzen und andere sogenannte nachtaktive Tiere können hingegen auch bei Dämmerung gut sehen.
Hier zeigt sich wieder ein wesentlicher Unterschied zum Kamera-Auge: das vermag - wozu das menschliche Auge nicht in der Lage ist - Licht zu addieren. Die Kamera kann etwa eine Landschaft im Mondschein (fast) so wiedergeben, als wäre die Aufnahme am helllichten Tag gemacht worden. Dazu ist nur eine entsprechend lange Belichtungszeit notwendig, über mehrere Minuten oder gar Stunden. Während die Verschlusszeit beim Menschen quasi fix ist, ist sie bei der Kamera variabel.
Eben mögen wir noch in einem Buch lesen, im nächsten Augenblick blicken wir zur Kirchturmuhr auf. Das eine wie das andere, die Buchstaben in der Nähe wie die Uhrzeit in der Ferne, erkennen wir deutlich - vorausgesetzt, es liegt keine sogenannte Sehanomalie (oder ein rauschhafter Zustand) vor. Ermöglicht wird das durch eine Meisterleistung unserer Augen. Sie können sich durch Veränderung des Linsenkrümmungsgrades in Sekundenbruchteilen auf unterschiedliche Entfernungen einstellen - so schnell, dass uns die sogenannte Akkomodation gar nicht bewusst wird.
Blicksprünge sind die schnellsten Bewegungen, zu denen der menschliche Körper fähig ist. Der französische Augenarzt Emile Javal (1836-1907) nannte sie treffend "saccade", Ruck. Kurz zuvor und während einer solchen Sakkade wird die optische Sinnesleistung drastisch eingeschränkt, aber das Gehirn fügt die Informationen zu einem scheinbar lückenlosen Gesamtbild zusammen.
Die Muskelfasern, die für diese Ruck-Bewegungen verantwortlich sind, arbeiten mit großer Geschwindigkeit und Präzision. Dies erfordert viel Sauerstoff, deshalb sind diese Muskeln stärker durchblutet als etwa der Herzmuskel. Unser Sehmechanismus ist mithin so ausgebildet, dass die Wirklichkeit, die wir wahrnehmen, frei von Verwischungen und Verwackelungen ist.
In der Fotografie ist das anders. Sie kennt Unschärfe in allen Varianten, oft auch unfreiwillig. Wir fotografieren eine Person - und auf dem Bild erscheint sie, gegen alle Absicht, verschwommen und undeutlich. Mag sein, dass wir die Entfernung falsch eingestellt oder die Kamera im Moment der Aufnahme nicht ruhig gehalten haben, wodurch es zur Verwackelung gekommen ist. Das Bild ist reif für den Papierkorb.
Abhebung vom Grund
Nachsichtiger zeigt sich der Betrachter, wenn weniger bildwichtige Teile in Unschärfe verschwimmen, etwa der Hintergrund bei einer Porträtaufnahme. Das stört ihn nicht, das betrachtet er möglicherweise sogar als eine interessante Gestaltung. Obwohl das Foto auf diese Weise ein Bild der Wirklichkeit liefert, das wir aus eigener Anschauung gar nicht kennen.
Der Vorteil der Aufteilung in scharfe und unscharfe Partien liegt darin, dass sich der Betrachter auf Anhieb orientieren kann. Wie von einem Magneten angezogen, fällt sein Blick sofort auf die scharfen Partien, denn die wertet er als wichtig. So erfolgt nicht nur eine visuelle, sondern auch eine inhaltliche Gewichtung: Wesentliches wird von Unwesentlichem getrennt. In der Sprache der visuellen Wahrnehmungspsychologie: Die Figur hebt sich vom Grund ab.
Als die Fotografie vor knapp 200 Jahren entstand, lag ihre große Faszinationskraft vor allem darin, dass sie ein Abbild der Wirklichkeit in bisher nicht gekannter Detailgenauigkeit lieferte. Plötzlich gab es Bilder, die nicht ein Künstler, sondern ein Apparat geschaffen hatte. Das Erstaunen muss grenzenlos gewesen sein, glaubt man zeitgenössischen Berichten. Wie ist es möglich, fragten sich die Menschen, eine zweidimensionale Kopie von einem realen Gegenstand herzustellen? Nicht wenige Menschen waren der Ansicht, dass Magie im Spiel sein müsse, andere, dass die Objekte durch den Akt der Aufnahme etwas von ihrer materiellen Präsenz abgegeben haben müssen, und zwar jenen Teil, der nun auf dem Foto verewigt ist.
"Man getraute sich (. . .) zuerst nicht, die ersten Bilder (. . .) lange anzusehen. Man scheute sich vor der Deutlichkeit der Menschen und glaubte, dass die kleinen, winzigen Gesichter einen selbst sehen könnten, so verblüffend wirkte die ungewohnte Deutlichkeit", schreibt Walter Benjamin in "Kleine Geschichte der Fotografie".
Die Fotografie als Abbild der Welt: Zu diesem Selbstverständnis formierte sich um 1900 eine Gegenposition. Einigen Fotopionieren ging es darum, dem neuartigen Bildmedium einen Platz im hehren Tempel der Kunst zu sichern. Sie experimentierten mit Chemikalien und Druckverfahren, um gerade das zu vermeiden, was nach landläufiger Meinung die besondere Qualität der Fotografie ausmachte: ihre Detailgenauigkeit. Sie wollten mit dem Fotoapparat Bilder schaffen, die wie Gemälde wirkten. Und tatsächlich glichen ihre Arbeiten mehr einer Kohlezeichnung oder Radierung als einer konventionellen Fotografie.
Die Kunstgeschichte hat für diese Gruppe von Fotopionieren, die im Übrigen durchweg aus gutbürgerlichem und kunstbeflissenem Haus stammten, den Begriff "Piktorialisten" oder "künstlerische Fotografen" geprägt. Einer ihrer bedeutenden Vertreter in Österreich war Heinrich Kühn (1866-1944), dem die Wiener Albertina zuletzt im Sommer 2010 eine große Ausstellung gewidmet hat.
Die Hamburger Kunsthalle zeigte unlängst in der Schau "UNSCHARF. Nach Gerhard Richter" Unschärfe als Stilmittel in der zeitgenössischen Kunst. Dass Gerhard Richter hervorgehoben wurde, war kein Zufall. Der 1932 in Dresden geborene Maler, Fotograf und Bildhauer begann Anfang der 1960er Jahre, Bilder nach Fotovorlagen zu malen, und zwar so, dass er bestimmte Partien verwischt wiedergab. Für seine Malweise macht Richter nicht zuletzt philosophische Gründe geltend, nämlich grundsätzliche Zweifel an unserer Erkenntnisfähigkeit: Wir sollten nicht so tun, als könnten wir die Welt in ihrer Gesamtheit erfassen.
Der Realität misstrauen
Tatsächlich ist der Mensch nur für einen kleinen Ausschnitt des Spektrums elektromagnetischer Strahlung sensitiv, nämlich für den Bereich von 780 bis 380 Nanometer. In diesem relativ schmalen Band erkennt er Farben. Alles, was darüber oder darunter liegt, wie etwa die Ultraviolett- oder Infrarotstrahlung, ist für uns unsichtbar.
"Ich misstraue nicht der Realität, von der ich ja so gut wie gar nichts weiß, sondern dem Bild von Realität, das uns unsere Sinne vermitteln und das unvollkommen ist, beschränkt. Unsere Augen haben sich ja entwickelt zum Überleben; dass wir auch Sterne sehen können, ist purer Zufall", sagt Gerhard Richter. Manchmal macht er, dem die Berliner Nationalgalerie von 12. Februar bis 13. Mai 2012 eine Personale widmet, von seinen nach Fotos gemalten Bildern wieder Fotos - er spielt also mit den Medien und ihrem Authentizitätscharakter.
Im Leben ist Unschärfe ein Handicap. Wir fühlen uns unsicher, wenn wir Verkehrsschilder nicht mehr deutlich erkennen können. In der Fotografie ist Unschärfe hingegen ein Stilmittel, ein Ausdruck von Kreativität. Und diese braucht man wiederum fürs Leben.
Fortsetzung auf Seite 2
Wenzel Müller,geboren 1959 in Sindelfingen (D), lebt und arbeitet als Journalist und Sachbuchautor in Wien.