Zum Hauptinhalt springen

Kein Bullerbü des Mittelalters

Von Heiner Boberski

Wissen

Neue Forschungen legen nahe, dass die Wikinger mehr als brutale Sklavenhalter denn als Händler und Bauern agierten.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Die große Wikinger-Ausstellung, die heuer bereits weit mehr als 100.000 Besucher auf die Schallaburg bei Melk in Niederösterreich gelockt hat, geht am 8. November zu Ende. Der Archäologe Wolfgang Neubauer, Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Archäologische Prospektion und Virtuelle Archäologie (LBI ArchPro), hat nicht nur mit seinen Forschungen zu Stonehenge Aufsehen erregt, sondern auch mit seiner Arbeit an den skandinavischen Wikinger-Fundorten Birka (Schweden) und Borre (Norwegen). Im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" erläutert er die neuesten Erkenntnisse über die Nordmänner, die vor allem im 9. und 10. Jahrhundert große Bedeutung hatten.

Das Besondere an Borre ist für Wolfgang Neubauer, "dass dort die größten wikingerzeitlichen Grabhügel vereint sind, es ist auch die größte Gruppe an Monumentalhügeln". Bei Straßenbauten im Jahr 1852 hat man dort die erste große Schiffsbestattung entdeckt.

Überregionaler Bestattungsort mit Hafenanlage

Das Gräberfeld von Borre galt zunächst aufgrund von Überlieferungen aus den nordischen Sagas als Bestattungsplatz der Ynglinger-Dynastie. Irgendwo dahinter vermutete man eine Siedlung. "Diese Siedlung hat man aber nirgends gefunden", sagt Neubauer, auch die österreichischen Archäologen nicht, die dort ab 2007 tätig sind. Was man fand, waren große Pfostengruben, die auf eine wikingerzeitliche Halle hindeuteten: "Solche Hallen sind sehr typisch neben Gräberfeldern, da wurden die Toten aufgebahrt, da hat man Totenrituale gefeiert und sich auch immer wieder dort getroffen. Aber es fand sich wieder keine Siedlung."

Die bisherige Annahme, dass die Toten auf dem Landweg dorthin gebracht wurden, weil die Küste am Oslofjord an dieser Stelle nicht schiffbar sei, erwies sich als falsch, sagte Neubauer: "Wir haben die Seespiegelveränderungen in unseren dreidimensionalen Geländemodellen modelliert und auch im Bereich dahinter großflächige Messungen gemacht. Was wir dann gesehen haben, hat ausgeschaut wie lauter Linien, die über die ganze Fläche gehen. Diese Linien hören plötzlich auf, eine Anomalie, ein erstes Indiz für ein künstlich errichtetes Hafenbecken, um an diesem Strand, der eigentlich nicht schiffbar ist, mit Schiffen anlegen zu können."

Dies, so Neubauer, ergebe ein ganz neues Bild: "Da hier eine Hafenanlage ist, sind diese Toten nicht übers Land dahin gekommen, um am Meer bestattet zu werden, sondern sie wurden übers Meer gebracht. Es gibt auch dahinter keine Siedlung, wo die Leute, die hier bestattet sind, gelebt haben, sondern das ist ein überregionaler Bestattungsplatz für besonders hochstehende Wikinger."

Unterschiedliche Perzeption der Wikinger in Skandinavien

Daneben fand man in weitem Umkreis keine Siedlung, aber einen riesigen Hallenbau mit 650 Quadratmetern Innenfläche und Nebengebäuden. "Dieses Gebäude ist das zweitgrößte Wikingergebäude in Norwegen, wenn nicht sogar in Skandinavien" und datiert nach der Gräberfeldzeit, sagt Neubauer: "Das heißt, es setzt sich hier einer hin und begründet ein neues Machtzentrum neben den Grabhügeln mit allen wichtigen Vorfahren, wohl als Legitimation seiner Macht. Das würde von der Zeit gut passen, denn von 950 bis 980 findet der Wechsel von Häuptlingen zu wirklichen Königen statt. Der Häuptling hatte regional eine Machtposition, der König überregional. Die ganze Interpretation dieses Gräberfeldes ist nun eine andere. Es geht nicht um eine Dynastie, sondern um viele wichtige Leute aus dem ganzen Großraum, die in Borre bestattet wurden."

Wolfgang Neubauer wirkt sehr gespannt auf die weiteren Forschungen: "Jetzt muss man die Datierungshinweise viel enger sehen, jetzt muss man analysieren, wer könnte das aller gewesen sein, jetzt wird es erst spannend."

Ist das Wikingerbild auf der diesjährigen Schallaburg-Ausstellung, in der auch die neuen Forschungen des LBI ArchPro präsentiert werden, stimmig oder fehlt etwas? Neubauer meint: "Jeder Archäologe, der über Wikinger etwas macht, wird sagen, dass noch etwas fehlt. Aber auch die Perzeption der Wikinger ist ganz unterschiedlich in den einzelnen skandinavischen Staaten und auch im deutschsprachigen Raum."

Vor allem in Schweden sei die Archäologie stark von einer "political correctness" geprägt, der das Bild der Frau und der Kinder wichtig ist. Kriegerisch seien in diesem Bild vor allem die norwegischen und dänischen Wikinger gewesen, während sie in Schweden Bauern und Händler waren, die sich höchstens gegen Angriffe von außen wehrten und von Birka aus weltoffen Handel betrieben. So seien alle möglichen Güter bis aus Konstantinopel und Mesopotamien in den Norden gelangt.

Dieses eher idyllische Bild von einem "Bullerbü im Mittelalter" stört ein Fund, der in der Schalla-burg-Schau zu sehen ist, nämlich eine Hand- oder Fußfessel. "Eines der großen Handelsgüter der Wikinger waren auch Sklaven", weiß Wolfgang Neubauer, ein großer Teil der damaligen Gesellschaft waren Unfreie und Sklaven. Die Siedlung in Birka schaue nach neueren Forschungen ganz anders aus, als man nach den ersten Ausgrabungen annahm, nicht nur gleich große Häuser nebeneinander, sondern viele kleine Häuschen, ganz eng zusammengebaut, mit einer Wallanlage umgeben, und nur daneben große Wikingerhäuser mit Seeblick.

Machtvakuum nach dem Tod von Karl dem Großen

Man habe, so Wolfgang Neubauer, in Birka wenige Behausungen, aber tausende, meist sehr reiche Bestattungen gefunden. Daneben gibt es auch unscheinbare Gräber, mutmaßlich von Christen, da diese Toten keine Grabbeigaben haben: "Dieser Bestattungsplatz ist durch einen Wall getrennt vom anderen Gelände. Und da haben sich schon Leute darüber Gedanken gemacht, dass dieser Wall nicht zur Befestigung der Siedlung gedient hat, sondern quasi das Reich der Lebenden vom Reich der Toten trennt."

In der bisherigen Betrachtung werde die damalige Politik in Europa fast vollkommen ausgeblendet, sagt Neubauer: "Das Machtvakuum ist ein wesentlicher Punkt. Als das Reich Karls des Großen zusammenbricht, machen sich die Wikinger bemerkbar und nutzen die Schwäche ihrer Nachfolger." Dank der Klinkerbauweise ihrer Schiffe konnten die Wikinger auch relativ flache Gewässer befahren. Sie überfielen nicht nur Küstengebiete, sondern plünderten auch mehrfach die Klöster am Rhein. Neubauer: "All diese Rohmaterialien, die wir in Birka finden, sind nicht nur durch Handel dorthin gekommen, sondern sie konnten sich alles holen. Auf der anderen Seite können wir feststellen, dass diese einfache bäuerliche Gesellschaft sich sehr rasch entwickelt in eine Gesellschaft, die plötzlich Zugriff hat auf hochtechnisierte Prozesse der Schmuckherstellung."

In den rheinischen Klöstern gab es nicht nur Geistliche und Kunstschätze, sondern dort lebten auch die wichtigsten Handwerker, die diese Kunstschätze erzeugten. Wurden sie womöglich als Sklaven nach Skandinavien verschleppt? Auf diese Frage will Wolfgang Neubauer nicht antworten. Angesichts der politischen Dimension des Ganzen sei es politisch nicht korrekt, einen solchen Verdacht ohne wissenschaftlich fundierte Beweise auszusprechen. Feststehe aber, dass es sich bei den Wikingern um eine Sklavenhaltergesellschaft handelte, das sei damals aber anderswo nicht anders gewesen: "Auch der Bischof von Bremen hatte im 11. Jahrhundert noch Sklaven."