Katrin Amunts und ihre Kollegen erstellen Atlanten des Gehirns. Dabei entdeckten sie eine enorme Variabilität im Hirnaufbau.
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"Wiener Zeitung": Das Gehirn ist eines der komplexesten Systeme. Sie erstellen einen Atlas unseres Denkorgans. Was kann er genau?Katrin Amunts: Mit dem Atlas "JuBrain" kartieren wir Hirnareale in Stichproben menschlicher Gehirne, um deren Lage und Variabilität erfassen zu können. Dazu betten wir die Gehirne Verstorbener in Paraffin ein und zerschneiden sie in ein Zwanzigstausendstel-Millimeter dünne Scheiben. Unter dem Mikroskop beobachten wir dann die Verteilung von Zellkörpern, oder wie es heißt: die Zellarchitektonik, um Gehirnareale dreidimensional zu rekonstruieren. Wenn wir individuelle Gehirn-Karten übereinanderlagern, können wir die Wahrscheinlichkeit berechnen, mit der sich ein Hirnareal an einem bestimmten Ort befindet.
Zu welchen Erkenntnissen verhilft Ihnen diese Methodik?
Das Überraschende ist die Variabilität. Einerseits sind die Hirnareale verschiedener Menschen verschieden groß - etwa variiert die Größe des Sprachzentrums zwischen einzelnen Gehirnen um den Faktor fünf oder sechs. Andererseits unterscheiden sich die Areale bezüglich ihrer Lage - die einen liegen ein paar Millimeter weiter vorne, die anderen weiter hinten. Weiters haben die Gehirnregionen verschiedene Positionen in Bezug auf die Faltungen - also die Windungen und Furchen des Gehirns, die übrigens ihrerseits so variabel sind wie Fingerabdrücke.
Ist somit die Theorie, dass große Gehirne ein Zeichen für sehr viel Grips sind, endgültig vernichtet?
Wir haben nur wenige Hinweise, dass reine Größe einen Zusammenhang mit kognitiven Leistungen hat. Etwa wissen wir, dass die Region zur Musikverarbeitung bei Musikern größer ist. Aber man kann daraus nicht einfach schließen: Größer ist besser - es sind ja auch nicht alle Delfine schlauer als Menschen, nur weil sie größere Gehirne haben. Außerdem könnten ja auch kleinere Gehirne klüger sein, weil sie fähig sind, effizienter zu arbeiten. Wir gehen davon aus, dass die Variabilität funktionell bedeutsam ist. Sie scheint ein Riesen-Vorteil zu sein in der Evolution, weil sich dadurch mehr Spielraum für Anpassung ergibt. Wahrscheinlich stehen die kognitive Leistung und die Mikrostruktur des Gehirns in Wechselwirkung. Wir vermuten auch, dass die Lage von Gehirnarealen viel damit zu tun hat, wie diese verschaltet sind. Aber die Frage, wie das funktioniert, ist schwierig zu beantworten. Schon um einen Fuß vor den anderen zu setzen, benötigen wir ein Netzwerk an Gehirnregionen.
Wir wissen nicht, was Bewusstsein ist, und auch nicht, warum wir schlafen müssen. Wie weit ist man bei diesen Fragen?
Wie kommt Bewusstsein zustande? Hat eine Maus oder ein Rhesus-Affe Bewusstsein, und wie viele Zellen braucht man, um es zu erzeugen? Wir wissen recht gut, wie einfache Netzwerke im Gehirn funktionieren, also wie Nervenzellen miteinander verschaltet sind und Aktivitäten generieren, die wir messen können. Wir haben herausgefunden, wie wir eine Greifbewegung mit der Hand ausführen, haben Modelle zur Sehverarbeitung und kennen Ansätze von Sprachproduktion. Doch bei Fragen, die uns besonders brennend interessieren - also die Verhaltensweisen, die uns als Menschen auszeichnen -, haben wir fundamentale Prinzipien der Hirnorganisation noch nicht verstanden.
Wie viele Nervenzellen gibt ist?
Schätzungen zufolge sind es um die 86 Milliarden. Hinzu kommen noch einmal so viele Gliazellen, die die Signalübertragung und den Stoffwechsel der Nervenzellen unterstützen. Jede Nervenzelle hat 10.000 Synapsen (Kontakte) und wenn man sich vorstellt, dass jede Synapse an oder aus sein kann, also entweder es läuft Information oder nicht, gibt es unzählige Möglichkeiten, was diese Zellen tun könnten.
Manche Menschen tragen zu therapeutischen Zwecken Chips im Gehirn - etwa gegen die Parkinson-Krankheit. Wie weit darf man in die Gehirnvorgänge eingreifen?
Wenn man gelähmten Patienten dazu verhilft, bestimmte Bewegungen ausführen zu können, geht es um Sensorik und Motorik, also um unsere Interaktion mit der Welt. Doch Chips im Gehirn, die höhere mentale Prozesse beeinflussen, muss man ethisch ganz genau betrachten und sich überlegen, wie tiefgreifend man solche Dinge erlaubt. Denn bei invasiven Eingriffen kann es zu Folgen kommen, die wir so nicht gewollt haben. Im Experiment wurden bereits Möglichkeiten untersucht, Elektroden ins Gehirn einzusetzen, die molekulare Schalter umlegen. Je nachdem, wo der Schalter ansetzt, kann es zu Änderungen des Verhaltens von Versuchstieren kommen - Mäuse wurden aggressiver. Auch bei der Tiefen Hirnstimulation gegen Parkinson-Symptome wurden Verhaltensänderungen beobachtet. Die Frage ist, ob es reicht, wenn der Patient sagt, ob es meine Persönlichkeit ändert, ist mir egal, solange das Leiden verschwindet.
Sollen bildgebende Verfahren Gedanken sichtbar machen dürfen?
Bildgebende Verfahren wie etwa die funktionelle Kernspintomographie liefern Informationen darüber, wo und wie das Gehirn in einer bestimmten Situation aktiviert wird. Das ist wichtig für die Grundlagenforschung und für klinische Anwendungen. Ich halte dagegen sogenannte Lügendetektoren für problematisch und wissenschaftlich hinterfragenswert. Kein Lügendetektor kann klare Gedanken auslesen, sondern er unterliegt einer Auswertung, die von Fragestellung und Methodik abhängt: Die Interpretation der Muster ist also immer menschengemacht. Zudem finden bildgebende Untersuchungen, die uns sagen, wo bestimmte Gedanken entstehen, häufig in Gruppenstudien statt. Die Variabilität der Gehirnstrukturen gilt aber auch hier: Man kann nicht eindeutig für einen konkreten Menschen sagen, dass er jetzt genau diesen Gedanken gedacht hat und welche Prozesse dahinterstanden.
Zur Person
Katrin
Amunts
ist Leiterin des Instituts für Neurowissenschaften und Medizin am Forschungszentrum Jülich sowie Mitglied des Deutschen Ethikrats. Die Hirnforscherin referierte bei den Technologiegesprächen in Alpbach.