Die Regelung "Sprachkenntnisse als Voraussetzung für Familienzusammenführung" könnte gegen das EU-Recht verstoßen.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Über Schulhefte gebeugte junge Frauen; Männer, die Sätze in einer ihnen fremden Sprache deklamieren; Lehrerinnen, die an der Tafel Grundzüge der Grammatik erläutern: Diese Bilder brachten deutsche Reporter ihrem Publikum aus der Türkei mit, um die Verpflichtung zum Spracherwerb zu veranschaulichen. 2007 hatte die Regierung in Berlin die Regelung eingeführt, dass Ehegatten von in Deutschland arbeitenden Ausländern sich auf Deutsch verständigen können müssen, bevor sie ebenfalls in das Land ziehen dürfen. Das sollte einerseits die Integration erleichtern und auf der anderen Seite Zwangsehen erschweren. In Österreich gibt es übrigens ähnliche Vorgaben: "Deutsch vor Zuzug" lautet das Schlagwort.
In der Türkei stieg die Zahl der Sprachschüler daraufhin; Deutschkurse wurden nicht nur in Ankara oder Istanbul angeboten, sondern auch im Südosten des Landes, wo Kurden einen Großteil der Bevölkerung bilden. Dort ist es nicht unüblich, dass die Familie in die Heiratsplanung eingebunden ist, selbst wenn der Bräutigam bereits im Ausland lebt. Dass die Braut aus der alten Heimat kommen soll - darauf bestehen einige Eltern noch immer.
Die westeuropäischen Journalisten erzählten danach also von arrangierten Ehen und jungen Mädchen, die Deutschkenntnisse zu erwerben hatten, bevor sie zu einem kaum bekannten versprochenen Ehemann reisen durften. Aber sie berichteten auch von Menschen, die sich im Ausland gemeinsam eine Zukunft aufbauen wollten und dafür etliche Hürden in Kauf nehmen mussten.
Nun stellt sich jedoch heraus, dass Deutschland mit dieser Anforderung gegen EU-Recht verstoßen könnte. Zu diesem Schluss kommt nämlich ein Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofes (EuGH). Die Richter in Luxemburg werden über die Angelegenheit zwar wohl erst in einigen Monaten entscheiden, doch in den meisten Fällen folgen sie der Empfehlung ihres Generalanwalts.
Dieser befand vor wenigen Tagen, dass die Spracherfordernis weder mit den Regelungen zur Familienzusammenführung vereinbar sei, noch mit einem Abkommen zwischen der EU und der Türkei von 1970. Der Vertrag beinhaltet eine sogenannte Stillhalteklausel, die neue Einreisehürden für Türken verbietet.
Auf beides hat sich das Verwaltungsgericht in Berlin bezogen, als es den EuGH um dessen Rechtsmeinung fragte. Die Richter hatten sich mit der Klage von Frau D. zu beschäftigen, die seit Jahren versucht, zu ihrem Mann nach Deutschland zu ziehen. Er lebt seit 1998 dort, ist Mehrheitsgesellschafter einer Firma. Die beiden sind seit 2007 standesamtlich verheiratet, doch knapp zwanzig Jahre zuvor haben sie bereits eine religiöse Ehe vor einem Imam geschlossen. Das Paar hat vier Kinder. Dennoch hat es die deutsche Botschaft in Ankara vor gut zwei Jahren erneut abgelehnt, Frau D. ein Visum für den Ehegattennachzug auszustellen. Begründung: Frau D. verfüge nicht über die erforderlichen Sprachkenntnisse.
Dem Argument stellt der Generalanwalt des EuGH entgegen, dass es möglich sein sollte, einen Fall einzeln zu prüfen. So wären die Interessen minderjähriger Kinder oder "relevante Umstände" zu berücksichtigen. Einer davon wäre etwa Analphabetismus. Genau das trifft auf Frau D. zu.