Geköpfte Geiseln, in die Luft gesprengte Polizeianwärter, erschossene Politiker: Für den alltäglichen Horror im Irak ist auch zwei Jahre nach Kriegsbeginn kein Ende in Sicht. Und niemand weiß, ob mehr Menschen durch Terroranschläge, durch Kampfhandlungen oder fatale Irrtümer von Soldaten getötet werden. Für die Besatzungsmächte ist die Lage in weiten Teilen des Landes so gefährlich, dass sie die Opfer nicht mehr zählen, räumte das britische Außenministerium ein.
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Die USA begannen den Krieg in den Morgenstunden des 20. März 2003 mit der Bombardierung Bagdads. Kriegsgegner hatten gewarnt, der Einmarsch werde hunderttausende unschuldige Menschen das Leben kosten. Dann verkündete US-Präsident George W. Bush schon am 1. Mai das Ende der Hauptkampfhandlungen, und bis dahin waren unterschiedlichen Schätzungen zufolge mehrere tausend Menschen getötet worden.
Eine Gruppe internationaler Gesundheitsexperten wirft London und Washington in der aktuellen Ausgabe des "British Medical Journal" (BMJ) vor, die Opfer nicht mehr zu erfassen. Die offiziellen Angaben des irakischen Gesundheitsministeriums - 3.853 getötete Zivilisten zwischen April und Oktober 2004 - seien "mit großer Wahrscheinlichkeit viel zu gering". In der amtlichen Statistik finden sich weder die Menschen, die nicht direkt Opfer von Gewaltakten wurden, noch diejenigen, die dem Gesundheitssystem nicht gemeldet wurden.
Ein Anhaltspunkt für das tatsächliche Ausmaß findet sich im Medizinjournal "The Lancet" vom vergangenen Oktober: Auf Basis von Stichprobenbefragungen irakischer Haushalte kamen die Experten in einer Hochrechnung auf 100.000 kriegsbedingte Todesfälle in den ersten eineinhalb Jahren.
Ein Gesicht erhält der Krieg erst durch die Schicksale Einzelner. Besonders im Gedächtnis geblieben ist Margaret Hassan. Die aus Irland stammende Frau eines Irakers leitete viele Jahre das Bagdader Büro der Hilfsorganisation Care. Sie wurde von der Bevölkerung geliebt und hatte für eine friedliche Lösung des Konfliktes geworben. Am 19. Oktober 2004 wurde die 59-Jährige vor ihrem Haus von Unbekannten gekidnappt. Sie betrachtete sich selbst als Irakerin, hatte indes auch die britische Staatsbürgerschaft. Auf einem Video, das die Geiselnehmer machten, erflehte Margaret Hassan von London einen Truppenabzug. Auf einem anderen Video bricht sie zusammen, wird mit einem Eimer Wasser übergossen und schluchzt dann in die Kamera. Die Kidnapper filmten auch ihre Ermordung.
Große Betroffenheit rief auch das Martyrium des kleinen Ali hervor, der im Mai in ein Bagdader Kinderkrankenhaus gebracht wurde. Dort starb der drei Monate alte Säugling nach wenigen Tagen qualvoll an Durchfall, Austrocknung und schließlich an einer Blutvergiftung. In der Klinik fehlte es an allem: Es gab keine Medikamente, keine Geräte, kein geschultes Pflegepersonal.
Während die Zahl der Kriegsopfer scheinbar unaufhaltsam steigt, nimmt die Aufmerksamkeit der westlichen Öffentlichkeit ab. Längst wird auch nicht mehr über jeden der ums Leben gekommenen US-Soldaten berichtet, seit März 2003 sind es nach einer AP-Statistik mehr als 1.500. Und die Frage, ob der Einmarsch ins Zweistromland je gerechtfertigt war, ist im Bemühen um transatlantische Harmonie von der politischen Agenda verdrängt worden.
Ein Schlaglicht auf den mörderischen Alltag warf zuletzt der Tod des italienischen Geheimdienstmitarbeiters Nicola Calipari. Er starb im Kugelhagel von US-Soldaten, die an einem Checkpoint in Bagdad irrtümlich auf das Fahrzeug der befreiten Journalistin Giuliana Sgrena feuerten.
Für die irakische Bevölkerung gehören derartige Vorfälle zum täglichen Leben. Der amerikanische Fotograf Chris Hondros begleitete am 18. Januar eine US-Patrouille in der Ortschaft Tal Afar nahe Mossul. Es war stockdunkel, und ein Auto näherte sich. Nach mehreren Warnschüssen in die Luft feuerten die Soldaten auf den Wagen. Er rollte langsam an den Straßenrand. Eine Hintertür ging auf, vier blutüberströmte Mädchen und zwei Jungen fielen heraus. Die Eltern lagen tot auf den Vordersitzen. AP