Die Sozialunion gibt es nur als rhetorische Beschwörungsformel. Europa driftet sozial weiter auseinander, als es institutionell zusammenwächst.
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Das "Europäische Sozialmodell" erinnert ein wenig an den Warenreichtum im Moskauer Kaufhaus GUM zu Sowjetzeiten: "Keine Lebensmittel gibt es im Erdgeschoß, kein Geschirr im ersten Stock und keine Kleider im zweiten. Und keine Möbel findet man in der dritten Etage." Kein "Europäisches Sozialmodell" gibt es, außer in einzelnen Avantgarde-Ländern, in Europa. Keine Vollbeschäftigung. Kein ausreichendes Wachstum. Keine produktivitätsorientierten Einkommenszuwächse. Keine Chancengleichheit für Frauen. Keinen Weg aus massenhafter Arbeitslosigkeit, Armut und sozialer Ausgrenzung. Keine sicheren Renten.
Dass oft nur hohe Steuern, ein fetter, schwacher Staat, starre Bürokratien, Reglementierungswut, protektionistischer Wohlfahrtschauvinismus und fromme Sonntagsreden die europäische Praxis kennzeichnen, sagen nicht nur Gegner, sondern gerade auch enttäuschte Befürworter eines "Europäischen Sozialmodells".
Vor 1973, der ersten Erdölkrise, dem Beginn der Massenarbeitslosigkeit in Europa, waren die kritischen Denker der Zeit einig: Die Stabilisierung des "Spätkapitalismus" sei insoweit gelungen, als die großen Versprechen des europäischen Sozialstaats - Vollbeschäftigung, breite und gleichmäßige Teilhabe an Wertschöpfung und Wohlstand durch laufende Einkommenssteigerungen und ausreichende Sicherheit gegen die Risiken von Krankheit, Invalidität oder Alter, freie Gesundheitsversorgung, nachhaltige Pensionen - auf Dauer erfüllt seien. Die "soziale Frage" sei gelöst, allenfalls gäbe es an den Rändern der reichsten Länder politisch-kulturelle "Legitimationskrisen". Nicht einmal die kapitalismuskritischsten Geister hielten dauerhafte Massenarbeitslosigkeit, chronische Prekarität, Verarmung und ein Einreißen sozialer Netze umfassender Alterssicherung für möglich. Heute sehen wir, wie sie irrten.
Ein "Europäisches Sozialmodell" gibt es zwar als ständige rhetorische Beschwörung in Worten, aber weder als kohärentes Modell noch als poli-
tisches Projekt oder gar in Taten und Resultaten. Oder sind chronische Wachstumsschwäche, weit weniger Beschäftigung und viel höhere Arbeitslosigkeit als in den USA und Japan, rund 100 Millionen Erwerbslose zusätzlich zu den 18,5 Millionen Arbeitslosen, zig Millionen Berufsunfähige, jahrzehntelange Inaktivität im besten Erwerbsalter, bis zu 90 Prozent Frühpensionisten, chronische Armut und stark wachsende Ungleichheit mit einem "Europäischen Sozialmodell" vereinbar?
Ein solches ist im Rahmen der EU-Subsidiarität weder vorgesehen noch zulässig. Es gibt kaum intellektuell stimmige und politisch visionäre Entwürfe für eine Sozialunion. Europa driftet sozial weiter auseinander, als es institutionell zusammenwächst. Selbst zwischen den 18 Euroländern gibt es weit größere Unterschiede als etwa zwischen den US-Bundesstaaten - bei Standards ebenso wie bei Ergebnissen.
Manche Länder Europas bräuchten beim aktuellen Entwicklungstempo 63 bis fast 200 Jahre, um mittlere OECD-Werte oder Best-Practice-Performanz bei Säuglingssterblichkeit oder anderen Wohlfahrtsindikatoren zu erreichen. Worüber reden wir also, wenn wir von einem "Europäischen Sozialmodell" sprechen?