Die Evakuierung Ost-Aleppos ist gescheitert, ein Waffenstillstand hielt nicht. Zahllose Zivilisten hoffen weiter auf ihre Rettung.
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Wien/Damaskus. Das Drama um die von der syrischen Armee eingekesselten Menschen in Aleppo nimmt seinen Lauf. Laut russischen Angaben kontrollieren die Rebellen ein Gebiet, das nur noch 2,5 Quadratkilometer groß ist. Hier drängen sich Frauen, Kinder, und die Reste der geschlagenen Rebellen, die teilweise noch über schwere Waffen verfügen.
Eigentlich hatten sich die Assad-Gegner schon am Vortag mit dem Regime darauf geeinigt, dass alle Eingekesselten die zerbombte Stadt verlassen dürfen. Der russische UN-Botschafter Witali Tschurkin und die Türkei bestätigten das. Ost-Aleppo sollte noch in der Nacht auf Dienstag vollständig evakuiert werden. Es wurde eine Feuerpause vereinbart.
Was in den folgenden Stunden in und um Aleppo genau geschah, ist nicht geklärt. Die zahlreichen Meldungen widersprechen einander, für die meisten gibt es keine unabhängige Bestätigung.
Die russische Nachrichtenagentur Interfax - Russland steht im Krieg auf Seiten des syrischen Machthabers Bashar al-Assad - berichtete, dass zunächst 6000 Zivilisten in der Lage gewesen wären, Aleppo zu verlassen. Darunter 2000 Kinder. Außerdem hätten 366 Rebellen die Waffen niedergelegt und seien aus der Stadt abgezogen.
Dann aber ging etwas schief, wer die Schuld daran trägt, ist umstritten. Laut Rebellen hätten Einheiten der syrischen Armee Mittwoch Vormittag das Feuer auf Ost-Aleppo eröffnet, es seien Artillerie und Panzer zum Einsatz gekommen. Nach einer halben Stunde hätten die Waffen wieder geschwiegen. Die russische Nachrichtenagentur Tass hingegen vermeldete, dass Rebellen versucht hätten, den Belagerungsring der syrischen Armee zu durchbrechen. Dieser Versuch sei mit Waffengewalt abgewiesen worden.
Die vereinbarte Evakuierungsaktion war damit zu Ende. Damaskus beorderte die mit bunten Assad-Fahnen geschmückten grünen Busse eines staatlichen Transportunternehmens zurück. Die wartenden Eingeschlossenen hatten das Nachsehen. Eigentlich hätten die Menschen schon in der Nacht auf Dienstag evakuiert werden sollen, doch laut Rebellen hätten die Armee und verbündete Milizen den Fluchtkorridor blockiert.
Die Version des syrischen Regimes lautet, dass die Verzögerungen beim Abzug der Aufständischen, ihrer Familien und anderer Zivilisten auf "Unstimmigkeiten zwischen den Anführern der Rebellen" zurückzuführen seien. Manche hätten die schweren Waffen mitnehmen wollen, andere nicht. Anderen Angaben zufolge habe die syrische Regierung Einwände gegen die Aktion gehabt: Man habe sich von Russland schlichtweg überrumpelt gefühlt, heißt es. Einige Rebellen behaupten, dass der Iran, der mit dem syrischen Regime verbündet ist, für den Stopp der Evakuierung verantwortlich sei. Die Perser hätten gefordert, dass im Gegenzug Verletzte aus zwei von den syrischen Rebellen umzingelten Dörfer evakuiert würden.
Vereinbarungen halten nicht
Einmal mehr zeigt sich, dass längst zu viele Mächte im Syrien-Konflikt mitmischen, dass es dort zu viele widersprechende Interessen gibt, die getroffene Vereinbarungen rasch wieder hinfällig werden lassen. Das Muster ist bekannt, es hat auch die Waffenstillstandsverhandlungen, unter anderen die, die in Wien stattgefunden haben, scheitern lassen.
Was in den letzten Tagen in den von der syrischen Armee eroberten Teilen Aleppos geschah, ist ebenfalls nicht einwandfrei feststellbar. Tatsache ist, dass die UNO von konkreten Hinweisen auf Massenexekutionen durch die Armee spricht. Medien berichten, dass Soldaten mit Namenslisten von Familien, die angeblich in Verbindung mit Terroristen stehen, von Haus zu Haus gingen. Wer auf der Liste stehe, werde getötet. Am Dienstag sollen nach UN-Angaben 82 Zivilisten erschossen worden sein, darunter Frauen und Kinder. Die Vereinten Nationen richteten einen dringen Appell an die syrische Armee, dafür zu sorgen, dass es in Ost-Aleppo nicht zu Racheaktionen kommt. Die UN-Ermittler für Kriegsverbrechen gehen nach eigenen Angaben auch Berichten nach, dass die Rebellen und Extremisten Zivilisten festhalten und dass sich Kämpfer unter den Zivilisten verbergen.
Nach dem Scheitern des Waffenstillstandes am Dienstag wollte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan mit dem russischen Staatschef Wladimir Putin telefonieren, um erneut einen Waffenstillstand und den Abzug aus Ost-Aleppo zu ermöglichen. Auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel rief bei Putin an, um sich bei ihm für die Eingekesselten zu verwenden.
Tatsache ist, dass die Lage der Eingeschlossenen mit jeder Stunde verzweifelter wird. "Es gibt kein Trinkwasser mehr, es gibt keine Nahrung mehr", so ein Rebellenanführer. Auch die medizinische Versorgung sei fast völlig zusammengebrochen.
"Wir wollen raus"
"Wir wollen raus, wir wollen keine weiteren Massaker", schreibt ein Aktivist in einer Textnachricht. Zehntausende sitzen auf ihren gepackten Koffern und warten, dass sich ein Tor aus der Hölle öffnet. In den sozialen Medien kursieren Fotos, auf denen zu sehen ist, wie Menschen das, was nicht in die Taschen passt, auf offener Straße verbrennen. Zu groß sei die Angst, dass Assads Truppen Hinweise auf ihre Identität finden und sich auch später noch an ihnen oder ihrer Familie rächen könnten, heißt es.
Die Türkei bereitet sich jedenfalls auf einen weiteren Zustrom von Syrern vor, Ankara will eine Zeltstadt für 80.000 Flüchtlinge aus Aleppo aufbauen. Der stellvertretende türkische Ministerpräsident Mehmet Simsek kündigte das Vorhaben via Twitter an, ohne allerdings Details zu nennen.
Paris setzte am Mittwoch ein Zeichen der Solidarität mit den Menschen in Aleppo. Die Beleuchtung des Eiffelturms wurde um 20 Uhr abgeschaltet. Der Turm wird normalerweise jeden Abend mit tausenden blinkenden Lichtern illuminiert. Präsident François Hollande hatte zuvor die Setzung eines Signals für Syrien und die Einrichtung humanitärer Korridore gefordert.