Geburtenraten von Zuwanderern sinken in der zweiten Generation deutlich.
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Wien. Der Islam werde in wenigen Jahrzehnten in Europa die Mehrheit der Bevölkerung stellen. Mit derartigen Aussagen versuchten einige Autoren in den letzten Jahren, Alarmstimmung aufkommen zu lassen. "SOS Abendland" betitelte zum Beispiel Udo Ulfkotte sein Buch, in dem er für 2040 eine muslimische Mehrheit für Schweden und für etwa 2050 für Russland in Aussicht stellte.
Der österreichische Demograph und Wittgenstein-Preisträger Wolfgang Lutz hält im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" nichts von derartigen Szenarien: "Das ist aus der Luft gegriffen, von einer Mehrheit kann keine Rede sein, selbst nicht in den extremsten Szenarien, selbst nicht mit massivstem Zuzug, der ja gar nicht mehr vorhanden ist." Zuwanderung erfolge heute schon mehr vom Balkan als aus dem islamischen Raum, und für Österreich sei zum Beispiel inzwischen bereits Deutschland das Land, aus dem die meisten Immigranten kommen.
Ein zweiter Faktor, so Lutz, der seit 1994 das Weltbevölkerungsprogramm am Internationalen Institut für Angewandte Systemanalyse (Iiasa) und seit 2002 das Institut für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften leitet, sei die Zahl der Kinder, die Muslime im Vergleich zu Nichtmuslimen haben: "Und da zeigt sich eine massive Anpassung an das österreichische Niveau. Der Haupterklärungsgrund ist einfach die Bildung. Der Grund, warum Einwanderer aus Anatolien so viele Kinder hatten, ist, dass sie mit geringer Bildung aus sehr ländlichen Gebieten gekommen sind. Das ist vergleichbar bei uns mit den Bergdörfern zu Beginn des vorigen Jahrhunderts, die Menschen dort haben auch sehr viele Kinder gehabt. Aber innerhalb einer Generation passen sie sich an die Geburtenraten und den Lebensstil der neuen Gesellschaft an."
Dieser Trend trifft auch auf andere europäische Länder zu, weiß Wolfgang Lutz, aber auch auf die islamische Welt selbst: "Was die wenigsten wissen: Das Land, das den stärksten Geburtenrückgang der bisherigen Menschheitsgeschichte überhaupt hatte, ist die Islamische Republik Iran. Die hatten dort im Jahr 1984 noch sieben Kinder und heute haben sie so wenig wie Europa, also 1,6 bis 1,7. Der Hintergrund ist die höhere Bildung der Frauen, die das Mullah-Regime durchaus gefördert hat, und Familienplanung, denn im Koran heißt es, man soll nur so viele Kinder haben, wie man sich leisten kann."
Hohe Kinderzahlen sind aus der Sicht von Lutz für patriarchalische Gesellschaften mit traditionellen Normen, wie es sie auch im Europa des 19. Jahrhunderts gegeben hat, typisch. Wie Lutz und sein Iiasa-Kollege Vegard Skirbekk in einer 2012 von der Päpstlichen Akademie für Sozialwissenschaften publizierten Studie aufzeigen, neigen neben niedrig gebildeten Gesellschaften, auch Menschen mit hoher Religiosität dazu, mehr Kinder zu haben. Die Ergebnisse etlicher Studien belegen, dass die Unterschiede im Verhalten (auch was Geburtenraten betrifft) zwischen den Gruppen mit mehr oder weniger intensivem religiösem Leben innerhalb einer Religionsgemeinschaft stärker waren als zwischen den verschiedenen Religionen.
Wolfgang Lutz nennt als Beispiel "die Katholiken, die häufiger in die Kirche gehen und sich da stärker eingebunden fühlen, unter ihnen ist der Kinderlosenanteil deutlich geringer". Religiöse Menschen seien oft mehr an sozialen Kontakten und Gemeinschaft interessiert, das schlage sich auch in höheren Geburtenraten nieder.
Einerseits, so Lutz, schreite die Säkularisierung voran und viele besser gebildete, moderne junge Menschen können mit den Lehren der Religionen, oft auch mit deren Haltung zur Stellung der Frau in der Gesellschaft, nicht mehr viel anfangen. Trotzdem werde der Anteil der religiösen Menschen an der Gesamtbevölkerung voraussichtlich nicht dramatisch sinken, da eben die religiösen Familien deutlich mehr Kinder haben und doch relativ viele von ihnen die Einstellungen aus ihrem Elternhaus für den Rest ihres Lebens mitnehmen. In ihrer Studie führen das Lutz und Skirbekk am Beispiel Spanien aus.
Religion ist stabiler Faktor
Ähnliche Phänomene sieht Lutz im amerikanischen "Bible Belt" (Bibelgürtel), wo die dortigen glaubensfesten Protestanten viele Nachkommen haben, oder unter orthodoxen Juden, die meist sehr große Familien bilden. Er kennt auch ein interessantes Beispiel aus Skandinavien, die vorwiegend in Nordfinnland lebenden Laestadianer, eine christliche Erweckungsbewegung: "Die lehnen meist Empfängnisverhütung ab und haben oft 16 bis 18 Kinder. Wenn man dann in der nächsten Generation schaut, wie viele keine empfängnisverhütenden Mittel nehmen, so ist es immer noch mehr als die Hälfte."
Immer wieder kehrt ein gewisser Anteil der Kinder der Religion ihrer Eltern den Rücken, dennoch sieht Lutz die Demographie in der Lage, relativ verlässliche Prognosen über Religionen zu machen: "Religionszugehörigkeit ist eine relativ stabile Eigenschaft. Wir wissen, dass es Austritte aus Religionen gibt, Eintritte schon weniger und Übertritte noch viel weniger. Das lässt sich relativ sicher in die Zukunft berechnen."