Mediziner warnen vor Scheinpatienten und übertriebener Pathologisierung.
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Wien. Launenhaftigkeit, Müdigkeit, Gewichtszunahme, ein Ziehen in den Brüsten - und das Ganze regelmäßig jeden Monat: Hormonell bedingte Schwankungen im Wohlbefinden, denen viele Frauen vor der Regel ausgesetzt sind, sind relativ normal. Künftig werden sie jedoch zum Krankheitsbild erhoben.
Ärzte können ab 2013 eine "Prämenstruelle Dysphorische Störung" diagnostizieren, die sich unter anderem durch eine "affektive Anfälligkeit für Stimmungsschwankungen", "erhöhte Sensibilität gegenüber Zurückweisung", "Irritierbarkeit, Groll, Zorn", "merkliche depressive Verstimmungen" oder "vermindertes Interesse an Aktivitäten wie Beruf, Schule, Freunde, Hobbys" bemerkbar macht. Was heute etwa durch die Einnahme von Hormonen ausgeglichen werden kann, bedarf dann wohl Antidepressiva und Co. Zumindest, wenn es nach dem neuen, US-amerikanischen "Diagnostischen und statistischen Handbuch für psychische Störungen" (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, DSM) geht, das die Zahl der psychischen Krankheitsbilder erheblich ausweitet.
Ohne Zweifel bringen präzisere Diagnosen bessere Behandlungsmöglichkeiten. Wissenschafter warnen jedoch vor Millionen von Scheinpatienten, denen Ärzte künftig psychische Erkrankungen attestieren könnten, obwohl sie nur unter bestimmten Zuständen leiden, die ihnen zwar vielleicht zu schaffen machen, aber die nicht zwingend krankhaft sind.
Rund 9000 Mediziner üben in einem Offenen Brief an die Autoren von der American Psychiatric Association Kritik an der Neuauflage des "DSM". (Beide sind abrufbar im Internet unter http://www.ipetitions.com/petition/dsm5/ und www.dsm5.org.) Das Handbuch bietet eine Leitlinie für Psychologen. Es definiert, bis wann jemand "normal" , und ab wann er als "krank" einzustufen ist. Die erste Ausgabe des Index aus dem Jahr 1952 listete 106 psychische Leiden auf. In der 5. Ausgabe ("DSM 5") sind es dagegen drei Mal so viele. Das liegt einerseits am zunehmenden Wissen über das Fachgebiet. Anderseits aber sollen nun auch Vorstufen - also Zustände, bei denen noch keine Symptome zu finden sind, sich aber gewisse Veränderungen einstellen - eigenständige Diagnosen sein. Dazu zählen koffeinbedingte Schlafstörungen, Anfälle von Jähzorn, Trauer über den Tod eines geliebten Menschen, ein schwacher Sexualtrieb, oder eben jene Symptome, die - noch - als hormonell bedingte, stärkere oder schwächere Schwankungen im Wohlbefinden vor der Regel verstanden werden.
Burnout bei Babys
Führender Kritiker des "DSM 5" ist Allen Francis, emeritierter Professor der Duke University in Durham, North Carolina, und einer der Schirmherren der Vorgänger-Ausgabe des Handbuchs. Im Gespräch mit "Spiegel Online" räumt er ein: "Durch unsere Arbeit für DSM-4 haben wir Epidemien wie ADHS erschaffen. Nun aber kommen wir zu dem Punkt, an dem es kaum mehr möglich ist, ohne geistige Störung durchs Leben zu gehen."
Heute wird bei jedem 20. Kind und Jugendlichen im Alter von drei bis 17 Jahren einmal im Leben das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHS) diagnostiziert. Zu den Symptomen zählen Nicht-Stillsitzen-Können, starke Konzentrationsschwierigkeiten und tägliche oder gar stündliche Tobsuchtsanfälle. Woher die inflationäre Zahl auszuckender Kinder kommt, weiß keiner. Jedoch wird die ADHS-Diagnose immer häufiger zu Unrecht gestellt, erläuterten jüngst kanadische Wissenschafter im "Canadian Medical Association Journal". Besonders bei früh eingeschulten Kindern wird demnach ein im Verhältnis zu den älteren Klassenkameraden unreiferes Verhalten häufig irrtümlich als krankhaft interpretiert - mit gravierenden Folgen für die betroffenen Kinder. Auch Esssucht, Entwicklungsstörungen und Depressionen suchen Kinder und Jugendliche angeblich immer öfter heim - und in Internet-Foren wird sogar über Burnout bei Babys diskutiert.
Zugleich wächst die Kritik an einer allzu großen Bereitschaft, Medikamente zu verabreichen. Frances warnt vor einem "exzessiven, nicht angebrachten und potenziell gefährlichen Konsum, vor allem unter Kindern". Und Günter Krampen, Professor für klinische Psychologie der Universität Trier, betont, dass die Mediziner "manchmal zu schnell bei der Hand" seien bei der Verschreibung von Ritalin gegen ADHS.
Wichtige Früherkennung
Angst und Depression zählen in Europa zu den am häufigsten beobachteten psychischen Störungen. "Entgegen der üblichen Annahme nehmen diese Erkrankungen aber nicht wirklich zu, allenfalls werden sie häufiger diagnostiziert, auch weil die öffentliche Wahrnehmung deutlich größer geworden ist", sagt Wolfgang Fleischhacker, Direktor des Departments für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Innsbruck.
Eine Ausweitung der Diagnose-Parameter berge durchaus größere Chancen auf Früherkennung: "Schizophrenie ist eher selten. Bei einer frühen Diagnose und Behandlung ist die Prognose am günstigsten. Viele Menschen können durchaus ein erfülltes Leben in unserer Gesellschaft führen", betont Fleischhacker. In diesem Sinn listet "DSM-5" neben Wahnvorstellungen, Sprachstörungen, stark abnormalem oder asozialem Verhalten auch noch mehrere Untergruppen des Krankheitsbildes auf.