Diskussion über "Parlamentarismus unter Druck" - Ruf nach mehr partizipativer Demokratie.
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Wien. Der Wille des Volkes! Der Schlachtruf aller Revolutionäre und Populisten hat bis heute besonderen Klang. Dabei ist die Sache mit dem Volk, gerade in Demokratien, alles andere als einfach. Daran hat auch die Parlamentarisierung der Volksherrschaft nichts geändert.
Also trafen sich am Dienstagabend die Demokratie- und Europaforscherin Ulrike Guérot und Alexander Warzilek vom Österreichischen Presserat, um auf Einladung von Evangelischer Diakonie und "Wiener Zeitung" über "Unser Parlament: Gegenspieler oder Vertretung des Volkes" aufgekratzt zu diskutieren.
Die Kritik am Parlament, am Parlamentarismus, wo freie, faktisch aber an Parteien gebundene Abgeordnete im Namen des Volkes für das Volk entscheiden, ist nicht neu. "Quer durch die Geschichte der Demokratie ziehen sich Momente, in denen die Bürger gesagt haben: ‚Wir müssen jetzt die Geschicke endlich wieder selbst in die Hand nehmen‘", erläutert Guérot. "Und auch heute sind wir wieder in einer Phase, in der wir die repräsentative Demokratie massiv infrage stellen", etwa in Brexit-Großbritannien oder in Italien.
Wer darf "wir" sagen?
Wenn es um Volkes Stimme geht, sind in der Regel die Medien nicht weit, die für sich in Anspruch nehmen, den Bürgern Gehör zu verschaffen. Von den Medien als Konkurrenz der Parlamente will Alexander Warzilek vom Presserat dennoch nichts wissen, sondern als Instrumente zum nötigen sozialen Ausgleich. Vor allem aber sind die Parlamente für ihn die wichtigste und effizienteste Gegenmacht zu all jenen Politikern, die für sich beanspruchen, den direkten Willen der Bürger zu vertreten.
So umkämpft wie der Parlamentarismus ist auch das "Wir", vor allem, wer überhaupt im Namen dieses "Wir" reden darf. Als die Schauspielerin Christiane Hörbiger in einem Video für Sebastian Kurz erklärte, wie glücklich "wir" gewesen seien, als er noch Kanzler war, erfolgte ein lauter Aufschrei. Klimaaktivistin Greta Thunberg verübelt dagegen niemand, wenn sie klagt, dass "wir" von der Politik in den Parlamenten verraten worden seien.
"In dem Moment, in dem wir in Kategorien von ,wir‘ und ,die‘ denken, ist die Demokratie bereits erodiert", ist Guérot überzeugt. Entsprechend spricht sie sich gegen jede Form von Ausgrenzung aus, auch von radikalen Parteien - vorausgesetzt, diese halten sich an die Gesetze. Entsprechend kann Guérot auch nichts mit der habituellen Ablehnung von "Populisten" anfangen, weil es in der Demokratie seit Platon stets um den "populus", das Volk, gegangen ist: "Bei einer Debatte ‚Wir sind die Guten und die Populisten sind die Bösen‘ bin ich nicht dabei." Ganz so einfach will Warzilek die "Populisten" nicht aus ihrer Verantwortung entlassen, ohnehin bestehende Spaltungen in einer Gesellschaft noch zu vertiefen.
Die Skepsis am Parlamentarismus hat auch damit zu tun, dass längst nicht mehr klar ist, wo in komplexen und globalen Gesellschaften die Macht sitzt; Parlamente und Abgeordnete werden kaum als reale eigenständige Machtfaktoren wahrgenommen.
Mehr Mitwirkung im Lokalen
Bleibt die Frage nach konstruktiven Lösungen für das Bedürfnis von immer mehr Menschen an direkter Teilhabe. Die Politologin Guérot sieht hier im Lokalen und Regionalen große Chancen für eine neue Kultur der Einbeziehung über Formen der partizipativen Demokratie der Bürger, wenn es um konkrete Lebenssituationen wie beispielsweise Verkehr, Schule oder Gesundheit geht. Dem kann auch Warzilek einiges abgewinnen.
Das allein löse die Probleme der höheren Ebene aber mit Sicherheit nicht, ist Guérot sich gewiss: "Der größte Mangel, den die Parlamente heute haben, ist nicht, dass da nicht genug Frauen oder Homosexuelle drinnen sitzen, der größte Mangel ist das Fehlen von Nicht-Akademikern, die soziale Repräsentation ist völlig aus den Angeln."