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Der pragmatische Umgang mit erlittenen Enttäuschungen zählt zu den wichtigeren psychohygienischen Basiselementen unseres mentalen Repertoires. Als nach den EU-Wahlen im Mai feststand, dass Jean-Claude Juncker neuer Präsident der EU-Kommission werden wird, schlug dem 59-jährigen Luxemburger Skepsis und Ablehnung entgegen. Der mit allen politischen Wassern gewaschene Christdemokrat wurde etwa vom "Spiegel" als "müder Politiker des 20. Jahrhunderts, der sich ins 21. verirrt hat" verspottet. Für Linke und alle Briten ist Juncker sowieso der falsche Mann zur falschen Zeit am falschen Ort. Und liberale Geister irritierte die Nonchalance, mit der er sich dem großkoalitionären Machtspiel im EU-Parlament unterwarf.
Europas Elite wünschte sich so sehr einen kontinentalen Wiedergänger Barack Obamas mit seinem "Yes, we can". Und erhalten haben sie einen Meister des taktischen Kompromisses, einen Deal-Maker ziemlich alter Schule. Juncker ist ein Hinterzimmer-Politiker, kein Bühnenzampano; er versteht es in keiner der drei Sprachen, die er fließend beherrscht, seine Zuhörer von den Sitzen zu reißen. Im Gegensatz zum brillanten Redner Obama kann er Allianzen schmieden und Kompromisse eingehen, Gegner umgarnen und Mitstreiter pflegen. Juncker weiß, dass sich das politische Handwerk im 21. Jahrhundert nicht so grundlegend gewandelt hat, wie uns die Trendgurus glauben machen. Tatsächlich braucht Europa einen Strategen für die langfristigen Ziele und einen gewieften Taktiker für die Überwindung kurzfristigen Widrigkeiten.
Die Krise in etlichen Nationalstaaten, die politischen wie die ökonomischen, lassen sich nicht durch einen Helden in Brüssel beheben. Die Erneuerung Frankreichs müssen schon die Franzosen bewerkstelligen, die Italiens die Italiener und diese Aufgabe bleibt auch uns Österreichern nicht erspart; und die Selbstfindung Großbritanniens kann den Engländern, Walisern und Schotten auch niemand abnehmen.
Was die Europäische Union in den nächsten Jahren leisten kann - und muss! -, ist, diesen Reformprozessen einen übergeordneten Rahmen zu geben, der die nationale Politik gleichzeitig entlastet und stärkt.
Das ist die Jobbeschreibung - und sie passt wesentlich besser auf den real existierenden Juncker als den imaginierten Euro-Obama. Wobei: Talentierte Redenschreiber schaden nie.