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Kein Ort der Stillen Nacht

Von Günter Spreitzhofer

Reflexionen

Im Westjordanland ist Weihnachten nur eine kurze Pause im konfliktgeladenen Alltag. Eine Spurensuche in Bethlehem.


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Jesus-Puppe neben Palästina-Fahne: Fundstücke in den Wühlkörben arabischer Shoppingcenters.
© Spreitzhofer

Nach Bethlehem
zu kommen war für Joseph und Maria wahrscheinlich einfacher als für Pilger heute. Denn der für über zwei Milliarden Christen weltweit überlieferte Geburtsort von Jesus Christus liegt zwar eigentlich im Staate Israel, aber zugleich in Palästinas Westjordanland, das sie hier Westbank
nennen. Deren unerfreuliche Beziehung zueinander ist bekannt, von christlicher Nächstenliebe keine Rede.<p>Doch seit einigen Jahren hat sich die Lage stark gebessert. Die Hälfte aller Pilger übernachtet sogar hier, selbst israelische Reiseleiter sind wieder mit Einschränkungen zugelassen. Israel hat den Goldesel Tourismus auch in Palästina fest im Griff und kontrolliert rund 80 Prozent der Reiseströme, wie das Palästinensische Informationsbüro im Bethlehem Peace Center
angibt. Bis zum Jahreswechsel rechnet die Palästinensische Autonomiebehörde, die hier seit 1994 das Kommando hat, mit Besucherrekorden. Vor allem in den Weihnachtswochen drängen Hunderttausende Pilger durch die Stadt.<p>Nur jeder vierte der rund 30.000 Einwohner bezeichnet sich als christlich, seit 2000 hat rund die Hälfte der Christen das Gebiet verlassen - wohl mehr eine Folge von Repressalien in Sachen Reisefreiheit als ein Kulturkampf mit einem Islam, der die Zahl der Moscheen im Großraum Bethlehem auf über 100 vervielfacht hat. 80 Prozent der Christen in Israel sind Araber: Und so gibt es mit Vera Baboun, früher Rektorin der Roman Catholic High School Beit Sahour
und Professorin für Englische Literatur an der Universität Bethlehem, seit 2012 die erste arabische Bürgermeisterin. Die Amtsinhaberin muss übrigens Christin sein, so will es das Gesetz.<p>

"Haus des Fleisches"

<p>Umkämpft ist die Stadt seit mehr als 2000 Jahren: Hinein kommt heute fast jeder, sofern er nicht orthodoxer Jude ist oder arabischer Muslim (oder wer zumindest so aussieht) - aber hinaus nur mit akribischen Untersuchungen von Hab und Gut. Den meisten Touristen bleibt das erspart, deren überschaubare Fracht zumeist aus wenig bedrohlichen Kreuzen im Taschenformat und ähnlichem christlich verbrämten Folklore-Gut besteht.<p>Der Manger Platz, rund um den sich die Omar-Moschee, das Holyland Arts Museum, das palästinensische Friedenszentrum, das altehrwürdige CasaNova Hotel und die Geburtskirche einträchtig gruppieren, ist das pulsierende altstädtische Herz Bethlehems.<p>Die Araber sagen "Haus des Fleisches" zu ihr, die Israelis "Haus des Brotes": Die Stadt lebt mittlerweile gut von Hotels und Souvenirs, die einem Viertel der Bevölkerung Arbeit und ein recht gutes Leben ermöglichen. Bethlehem ist die reichste Siedlung des Westjordanlandes geworden und erwirtschaftet mit über 30 Hotels und 300 Werkstätten für Kunsthandwerk mehr als zehn Prozent der Gesamteinnahmen der Westbank. Weihrauch liegt nur mehr selten in der Luft, und Myrrhe lässt sich auch bröckchenweise erstehen. Dazu Gewürze, Juwelen und klebrige Baklava, religiöse Perlmuttornamente, Statuen und Schatullen aus Olivenholz.<p>In den engen Gassen zum Hebron-Highway brutzeln Shawarmas
und faustgroße Falafels
, das Fast Food des Nahen Ostens. Und wer Heiligen Wein will, begibt sich ins salesianische Klosterweingut Cremisan, wo seit 1885 Wein angebaut wird. seit kurzem ist das Gelände an der neuen großen Mauer in einen israelischen und einen palästinensischen Abschnitt geteilt. "Sie gönnen uns nicht einmal den Wein", grummelt Rashid, ein russischstämmiger Araber, der in der Milchgrotte ältliche Ansichtskarten mit Briefmarken der Palästinensischen Autonomiebehörde verkauft.

Pulsierendes Zentrum von Bethlehem: Der Manger Platz mit der Geburtskirche.
© Spreitzhofer

<p>Die Spielzeugläden in den Souks führen erstaunlich viele Plastik-Maschinengewehre und grün-weiße Kunststoffpanzerfahrzeuge, mit oder ohne Krach, wie Abu Nassers Sohn erklärt, der auch in der Abenddämmerung seine Sonnenbrille nicht abnehmen will. Ein paar Kindertrommeln und -tröten gibt es auch, wer sich an Umzügen wie zu Weihnachten beteiligen oder sonst Lärm machen will. "Intifada", sagt er und lächelt nicht besonders fröhlich.<p>Die israelische Siedlung Har Homa, erbaut auf Jebal Abu Ghneim, könnte er vom Eingang der Geburtskirche aus gut sehen. Dort wird seit 1997 abgeholzt und die Hügel abgeflacht, um noch mehr Siedlungsraum zu schaffen. Kein Wunder, dass genug Mate- rial für touristische Schnitzwerke der Heiligen drei Könige zur Verfügung steht - von praktischem Playmobil-Format bis lebensgroßen Modellen, wer auch immer die mitnehmen mag.<p>Die Vernichtung von hunderttausenden Olivenbäumen, Lebensgrundlage im Westjordanland, hat System, genauso wie die Verseuchung von Trinkwasser durch die Einleitung ungefilterter israelischer Abwässer: Im letzten Jahrzehnt wurden in der Westbank 1,5 Millionen Bäume entwurzelt und die agrarische Produktion von Israel übernommen - Palästina muss heute vieles importieren, was jahrhundertelang selbst produziert wurde.<p>

Keine neuen Brunnen

<p>Neue Brunnen dürfen nicht gegraben werden, und die israelischen Hi-Tech-Tiefbrunnen dörren das karge Land zusätzlich aus. Konnte sich Bethlehem bis 1967 selbst mit Wasser versorgen, muss das eigene Wasser nunmehr vom israelischen Konzern Mekorot zurückgekauft werden. Und wenn es im Sommer zu heiß wird, werden selbst Kleinstädte wie Bethlehem von der Wasserversorgung völlig abgeschnitten, damit die jüdischen Siedlungen rundum unbeschränkten Wasserzugang haben.<p>Bethlehem ist im Norden wie im Westen von israelischen Siedlungsblöcken umschlossen. Rund um die Stadt wurden 16.000 Morgen Land für Mauerbau und militärische Verbindungsstraßen konfisziert. Bis zu den Mittelmeerküsten von Gaza westwärts und den Stränden am Toten Meer ostwärts sind es nicht einmal 70 km.<p>Wer ein idyllisches Hirtendorf erwartet, wird enttäuscht. Der "Stern von Bethlehem" ist ein Fotoshop in der Papst-Paul-VI.-Straße, die jeder bergauf gehen muss, der die 10 km mit dem Linienbus aus Jerusalem kommt und in die Altstadt von Bethlehem will. Der Bus 21 fährt alle 15 Minuten vom Damaskus Tor weg und nimmt einen langen Umweg durch die grauen, baumlosen Hügel rund um das alte Zentrum, das in den Hügeln des Judäischen Gebirges liegt. Endstation ist Bab Zukah am Hebron Highway, meist voll mit buntem Volk, unterwegs nach Hebron oder zu einer der beiden Universitäten von Bethlehem oder schlicht zum Shopping. "In Palästina ist alles billiger als in Israel", sagt Omar, der im Palestinian Heritage Center
von Bethlehem bestickte Stoffe verkauft und zugleich auch in den Souks von Jerusalem Geschäfte macht. Er hat einen Jerusalemer Ausweis und darf sich deshalb frei zwischen den Welten, die die neuen Zäune trennen, bewegen - für die Mehrheit der Bevölkerung Bethlehems eine Illusion.<p>

Geburtskirche

<p>Die Geburtskirche, die älteste durchgängig betriebene Kirche der Welt, ist heute UNESCO-Weltkulturerbe. Dort befindet sich die Geburtsgrotte, über der vor mehr als 2000 Jahren der Stern von Bethlehem geleuchtet haben soll, mit dem legendären 14-zackigen Silberstern. Dahinter liegt das Bethlehem Peace Center
, ein palästinensisches Informationszen-trum, mit der einzigen öffentlichen Toilette weit und breit, ein paar Teppichen an der Wand und vielen pastellfarbig kopierten Infoblättern über die Intifada am Boden. "2002 wohnten hier die israelischen Soldaten", erinnert sich Merve, während sie drinnen Tee kocht: "Wir hatten über ein Monat Ausgangssperre - und die Geburtskirche da drüben war auch besetzt."<p>Draußen, am Manger Square, verteilen ein paar Aktivisten Flugblätter an Pilgergruppen aus Nigeria und Ghana, die mit "Holy Bible"-Tours hergekommen sind und Selfies
vor religiösen Stätten machen. "Jesus loves you all"
, ruft der Reiseleiter ins Megaphon. Ob der Angerufene so ausgesehen hat wie die Jesus-Puppen in den Wühlkörben der arabischen Shoppingcenter am Stadtrand, eingehüllt in die Flaggen Palästinas, ist nicht überliefert.<p>Das bunte Weihnachtsfest ist in Bethlehem lediglich eine Pause vom Alltag, mehr nicht. Von stiller Nacht ist jedenfalls nichts zu bemerken. "Wer Weihnachten in Andacht verbringen will, ist hier fehl am Platz", sagt Massimo, der im Franziskaner-Hospiz Eis verkauft. Ein bisschen Frieden würde trotzdem niemanden stören.

Günter Spreitzhofer,
geb. 1966, ist Lektor am Institut für Geographie und Regionalforschung an der Universität Wien; Arbeitschwerpunkte: Tourismus, Urbanisierung & soziokulturelle Transformation, Umwelt & Ressourcen.