Österreichs Parlamentsparteien gehen in der Frage der Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei eigene Wege. In der gestrigen Sitzung des Hauptausschusses scheiterten je eigene Anträge von SPÖ, FPÖ und Grünen. Bemerkenswert dabei: In der Substanz liegen sowohl ÖVP wie Grüne als auch SPÖ und FPÖ weitgehend auf einer Linie. Bundeskanzler Wolfgang Schüssel bedauerte das Nichtzustandekommen einer gemeinsamen Position, die Opposition sieht in den getrennten Wegen der Koalitionsfraktionen den Beleg für eine Regierungskrise.
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Dabei sind sich mit Volkspartei, Freiheitliche und Sozialdemokraten immerhin drei der vier Parlamentsparteien weitgehend einig, dass ein Vollbeitritt der Türkei zur Europäischen Union nicht erstrebenswert ist - lediglich die Grünen votierten gestern für die Aufnahme von Verhandlungen mit diesem Ziel. Wie schwer es allen Parteien fällt, in dieser Frage eine geschlossene Linie zu halten, zeigten fast zeitgleich in Brüssel die EU-Abgeordneten (siehe Artikel Seite 4).
Schüssel skizzierte nach der Sitzung des Hauptausschusses in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Außenministerin Ursula Plassnik einmal mehr die Position Österreichs beim heute Abend beginnenden EU-Gipfel: Die Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union müsse mit dem Beginn des Verhandlungsprozesses mit der Türkei zu vereinbaren sein, zugleich müsse die Türkei in den europäischen Strukturen verankert werden. Wichtig sei, "dass es ein offener Prozess ist und dass das Verhandlungsergebnis nicht von vornherein festgelegt ist".
Für Plassnik steht fest, dass allfällige Verhandlungen nicht vor 2014 abgeschlossen werden könnten. Vor einem möglichen Beitritt müsse nämlich der EU-Finanzplan 2014 bis 2020 erstellt sein. Die Außenministerin zeigte sich überzeugt, dass in die Gipfel-Schlussfolgerungen eine "Stopptaste" eingebaut werde, die puncto Menschenrechte und auch Absorptionsfähigkeit eine Aussetzung des Prozesses erlaube.
Enttäuscht äußerte sich FPÖ-Obfrau Ursula Haubner, dass der Antrag der Freiheitlichen keine Mehrheit gefunden hat. Man habe ÖVP und SPÖ die Möglichkeit geboten, "gemeinsam mit uns gegen die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu stimmen. Gerade die SPÖ befindet sich anscheinend auf einem solchen Zickzackkurs, dass es ihr einfach nicht möglich ist, der klaren Linie der FPÖ zu folgen", formulierte Haubner.
Ganz anders die Interpretation der SPÖ: Die Regierung befinde sich in einer Krise, die sich angesichts der unterschiedlichen Positionen von ÖVP und FPÖ in der Türkei-Frage noch weiter vertieft habe, erklärte Bundesgeschäftsführer Norbert Darabos. Seine Schlussfolgerung: In der Außen- und Sicherheitspolitik gehen in der Regierung "nichts" mehr.
In ihrem eigenen Antrag plädierte die SPÖ erneut für ihr Modell einer "strategischen Partnerschaft" der EU mit der Türkei analog zum Modell des EWR. "Die Türkei ist ein wichtiger Partner der EU. Die EU soll daher die Beziehungen mit der Türkei auf Basis des bestehenden Assoziationsabkommens weiter vertiefen und den Reformprozess in der Türkei mit Nachdruck unterstützen", forderte Klubchef Josef Cap.
Als einzige Partei sprachen sich die Grünen für die Aufnahme von Verhandlungen mit dem Ziel eines Vollbeitritts aus. Die außenpolitische Sprecherin, Ulrike Lunacek, sieht im Weg von Bundeskanzler Schüssel, Verhandlungen mit offenem Ausgang anzustreben, die Gefahr eines Rückschlags für den Reformkurs der Türkei.
Ähnlich wie die SPÖ orteten auch die Grünen angesichts des Abstimmungsverhaltens der Koalitionsparteien eine Regierungskrise: "Im Hauptausschuss legt die FPÖ einen eigenen, der ÖVP völlig widersprechenden Antrag in dieser Causa vor. Und die ÖVP findet es nicht einmal mehr der Mühe wert, einen inhaltlichen Antrag einzubringen", konstatierte Lunacek.
Lunaceks Resumee zur aktuellen Stimmungslage in den beiden Regierungsfraktionen fällt entsprechend aus: "Die ÖVP und Bundeskanzler Schüssel machen ohnehin, was sie wollen. Jetzt wird nicht mal mehr vorgetäuscht, dass es relevant sei, was der Regierungspartner FPÖ davon hält."