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Kein "schwarzer Schwan" in Fukushima

Von Heiner Boberski

Wissen

Wissenschafter-Bilanz zur Katastrophe in Japan fällt äußerst kritisch aus.


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Wien. Japan habe noch Glück gehabt, die wahren Folgen der Katastrophe von Fukushima werde man erst in einigen Jahren sehen können, die Kommunikation darüber seitens der Kraftwerk-Betreiber und Behörden sei eine Farce gewesen, und die Stresstests für europäische Kernkraftwerke seien nur eine Alibi-Aktion. Derart kritische Befunde hat ein Symposion "Ein Jahr nach Fukushima" an der Universität für Bodenkultur (Boku) in Wien erbracht.

Laut Boku-Meteorologin Petra Seibert setzten sich zum Beispiel dank günstiger Wetterlage 80 Prozent des giftigen Cäsiums auf dem Pazifik, 18 Prozent auf Japan und 2 Prozent auf anderen Landflächen fest. Das Volumen des radioaktiv kontaminierten Bodens, der langfristig entsorgt oder - soweit möglich - großtechnologisch dekontaminiert werden müsste, entspricht 90 Millionen Kubikmeter oder etwa 35 Cheops-Pyramiden. Das Ausmaß der radioaktiven Freisetzung beim zweitgrößten Atom-Unfall der Geschichte wird auf ein Siebentel bis Fünftel der größten Katastrophe (Tschernobyl 1986) geschätzt.

Verfehlte Informationspolitik

Die Verteilung des Fallouts erfolge stets sehr ungleichmäßig, sagt der Münchner Strahlenbiologe Edmund Lengfelder, den zu erwartenden Anstieg der Krebsrate werde man erst nach Jahren beurteilen können. Beispielsweise sei nach Tschernobyl in Weißrussland die Zahl der Schilddrüsenkarzinome bei Kindern auf das 30-Fache gestiegen, in näher zum Unglücksort gelegenen Regionen aber nur kaum. Der Internationalen Atomenergie-Agentur IAEO wirft Lengfelder vor, falsch zu informieren. Es gebe einen Vertrag zwischen IAEO und Weltgesundheitsorganisation WHO, wonach Gesundheitsschäden infolge nuklearer Unfälle vertraulich zu behandeln seien. Solche Verträge müsse man "radikal annullieren".

Der Wiener Umweltmediziner Hans-Peter Hutter sieht neben der Verstrahlung auch andere für die Gesundheit problematische Faktoren, vor allem den Verlust der Heimat für die hunderttausenden Evakuierten und die tiefe Verunsicherung durch die unprofessionelle Informationspolitik von Behörden und Betreibern in Japan.

Diese Stellen hätten aber auch, so der Berliner Strahlenschutzexperte Gerald Kirchner, meist "im Blindflug" agiert, da die Messgeräte am Ort ausgefallen waren und wissenschaftlich erstellte Simulationen von außen von den Entscheidungsträgern ignoriert wurden. Dabei sei in Japan aufgrund meteorologischer und geologischer Studien eine solche Katastrophe vorhersehbar und keineswegs ein "schwarzer Schwan" (ein völlig aus dem Rahmen fallendes Ereignis) gewesen, betont der Boku-Risikoforscher Steven Sholly.

Eine Alibi-Aktion nennt der Boku-Risikoforscher Gueorgui Kastchiev die Stresstests für europäische Kernkraftwerke, sollte das umstrittene bulgarische Kraftwerk Belene in Betrieb gehen. Wolfgang Renneberg vom deutschen Büro für Atomsicherheit erklärt, diese Tests würden keineswegs eine vollständige Sicherheitsprüfung umfassen. Zum Beispiel gehöre das französische Kraftwerk Cattenom an der Mosel, das jüngst wegen eines Störfalls abgeschaltet werden musste, stillgelegt, doch die französische Atom-Aufsicht sehe das anders. Mitte 2012 soll der Endbericht über die Stresstests vorliegen.

Bei einem gravierenden Atom-Unfall, so die Experten, müssen noch vor der Freisetzung von Radioaktivität wichtige Maßnahmen gesetzt werden: Evakuierung der näheren Umgebung, rasche Verteilung von Jodtabletten, vor allem an Schwangere und Kinder, sowie eine umfassende und ehrliche Informationspolitik. Diesbezüglich ist Boku-Risikofoscher Wolfgang Kromp skeptisch: "Immer wenn Autoritäten überfordert sind, werden sie zu Mitteln der Informationsverweigerung und der Fehlinformation greifen."