Treffsicherheit der Migrationsregime muss erhöht werden. | Lukas Gehrke: Frage nach den Sozialleistungen bringt Emotionalität in die Debatte.
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"Wiener Zeitung": Der Großteil der Migranten nach Österreich kommt aus der EU. Geben sich die Regierungen einer Illusion hin, wenn sie glauben, sie könnten die Zuwanderung steuern?
Lukas Gehrke: Innerhalb der EU kann man Migration nicht regeln, weil man sie nicht regeln will. Was die externe Migration betrifft, ist es nicht illusorisch, dass man funktionalere Rahmenbedingungen setzen kann. Man kann auch die Steuerhinterziehung nicht vermeiden, aber man kann die Treffgenauigkeit erhöhen.
Wie kann man die Treffgenauigkeit der Migrationsregime erhöhen?
Man muss sich sachlich damit auseinandersetzen, was wir brauchen und wozu wir verpflichtet sind. Asylmigration macht nur einen verschwindend geringen Anteil der gesamten Migration aus, aber sie wird öffentlich am meisten diskutiert. Dieser Diskurs gehört zurecht gerückt. Dazu kommt, dass uns die Demografie gewisse Dinge diktiert. Vielleicht spüren wir es derzeit nicht, aber wenn wir jetzt nicht handeln, kommen wir zu spät: Der Pflegenotstand wird sich vergrößern, dazu kommt die Überalterung der Gesellschaft, generell wird die Schere zwischen arbeitenden Personen und Pensionisten immer weiter aufgehen. Das birgt Risiken, nicht nur in Bezug auf Sozialversicherungssysteme, sondern auch auf den sozialen Zusammenhalt.
Gehen Maßnahmen wie die Rot-Weiß-Rot-Card in die richtige Richtung?
Es ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber die Frage ist, wie groß er ist. Sinnvoll steuerbar ist Migration nur durch Einbezug aller Betroffenen - hier muss man einen aktiven Dialog führen, der leider allzu oft auf Wahlkämpfe beschränkt ist. In Österreich und Deutschland ist das Thema auch stark mit der Islam-Debatte verknüpft.
Wie kann man das besser machen?
Derzeit wird das Thema Migration - von Rechten wie Linken - oft populistisch diskutiert. Ein Diskurs als Voraussetzung für alles Weitere. Und der muss auf klarer Information darüber basieren, was arbeitsmarkt- und gesellschaftstechnisch auf uns zukommt. Denn was die Immigration betrifft, ist Europa meilenweit davon entfernt, seinen Bedarf zu decken. Es ist falsch zu glauben, dass Migration alle Probleme löst, sie ist Teil eines umfangreichen Zugangs. Man muss mittel- bis langfristig denken, und das eignet sich nicht für Legislaturperioden.
Migrationen sind ja kein Phänomen des 21. Jahrhunderts. Waren sie aber immer schon derartig strengen Regimen unterworfen?
Früher wurde vor allem die Auswanderung stark kontrolliert - also ein Zugang, der genau andersherum war als heute. Aber damals waren die Voraussetzungen andere. Ein Sozialstaat erfordert einen anderen Umgang mit Zuwanderung.
Inwiefern erfordert ein Sozialstaat einen anderen Umgang mit Migration?
Ein wichtiger Grund für die Emotionalität der Debatte ist die Frage nach dem Zugang zu Sozialleistungen. In den USA wird demgegenüber das Augenmerk auf den Grenzschutz gelegt - sobald man im Land ist, findet man entweder seinen Weg oder eben nicht.
Ein weiterer Unterschied zwischen Europa und den USA ist wohl, dass in Europa Integration meist mit Assimilation gleichgesetzt wird.
Die Idee hinter dem Assimilationsgedanken ist, dass Einwanderungssysteme dann nicht mehr mit den Komplexitäten einer pluralen Gesellschaft umgehen können müssen. Das Anderssein wird in dieser Sicht als hinderlich begriffen - etwa, was den Zugang zum Arbeitsmarkt betrifft.
Ist das so?
Nein. Das hängt auch davon ab, ob wir als Mehrheitsgesellschaft Systeme aufstellen können, die mit dem Mehrwert der Pluralität umgehen können.
Können wir damit umgehen?
In mancherlei Hinsicht ist hier noch viel zu gewinnen. Die nächste Runde an Wahlen hat das Potenzial einer Zerreißprobe - nicht nur in Österreich, sondern in vielen Staaten der EU. Das Projekt Europa lebt zwar von Pluralität, die auch propagiert wird, auf nationalstaatlicher Ebene soll "außereuropäische Pluralität" dann aber wieder als Problem erscheinen.
Kann man Integration überhaupt politisch steuern?
Ja. Es ist aber ein komplexer und langwieriger Prozess, der auch immer hochemotional sein wird. Auch in klassischen Einwanderungsländern wie Kanada und Australien ist Integration immer ein Thema. Der Anfang muss einmal gemacht sein - dies gilt auch für Österreich. Man muss immer wieder daran arbeiten, einen Konsens zu finden - und dafür sind die Wahlkampfzyklen nicht der geeignetste Ort. Migration und Integration sind zu wichtig, um so damit umzugehen.
Zur Person
Lukas Gehrke (38) ist Direktor am International Center for Migration Policy Development (ICMPD) in Wien. Er ist verantwortlich für Asyl, Migration und Integration und für die Arbeit des ICMPD in Afrika, Nahost und Lateinamerika. Gehrke ist Jurist und hat zuvor am Ludwig-Boltzmann-Institut geforscht.