Sollten die USA Afghanistan zu rasch verlassen, würden sie den Fehler, den sie schon in den 1980er Jahren begangen haben, wiederholen: Sie würden ein Machtvakuum hinterlassen.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 13 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Wir haben Osama bin Laden getötet, so lautet im Großen und Ganzen die Argumentation der US-Regierung für einen umfangreichen Truppenabzug aus Afghanistan im Lauf des nächsten Jahres. Das soll heißen: Unser Hauptziel, für das wir im Jahr 2001 die Truppen entsendet haben, ist erreicht. Jetzt haben wir ein Rückfahrticket, und das sollten wir nützen.
Das Gegenargument lautet, dass ein schneller Rückzug garantiert zum Scheitern führen wird. Auf diese Weise riskiert man, den Fehler zu wiederholen, den die USA in den 1980er Jahren machten, als sie Afghanistan mit Geld und Waffen versorgten, um die damalige Sowjetunion zurückschlagen zu können, sich dann aber zurückzogen und dadurch ein Machtvakuum erzeugten, das Warlords und ihre regionalen Unterstützer ausnützten. Irgendwo in der Mitte steckt US-Präsident Barack Obama, der am Montag ankündigte, dass die USA diesen Sommer mit dem Übergang beginnen werden. Allerdings sagte er nicht, was das genau bedeutet.
Diese Diskussion ist unvermeidlich auch ein Zahlenspiel: Die Befürworter des schnellen Abzugs wollen die Heimkehr aller 30.000 Soldaten der Truppenaufstockung von 2009. Diejenigen, die den Kurs halten wollen, sind für eine bescheidenere Reduzierung um 3000 bis 5000 Soldaten. Das ist ihrer Ansicht nach alles, was die Umstände erlauben. Und die Kompromissbereiten setzen sich für eine Verringerung um zirka 10.000 Soldaten ein.
Das Problem mit all diesen Argumenten ist, dass sie keine klare strategische Grundlage haben. Glauben diejenigen, die den Kurs halten wollen, dass die afghanische Armee tatsächlich schon stark genug sein wird, ganz auf eigenen Beinen zu stehen? Vielen Analysten erscheint das als zweifelhafte Annahme.
Und die Befürworter eines schnellen Abzugs, fühlen sie sich wirklich wohl mit der Vorstellung eines Afghanistan, das rasch auf das Muster der 1990er Jahre zurückfallen könnte? Klingt nach einem Rezept für immerwährende Instabilität in der Region.
Die drei Variablen, die US-Politiker diskutieren - Abzug der US-Truppen, Aussöhnung mit den Taliban und Drohnenangriffe - stehen in einer Wechselbeziehung zueinander. Zu bedenken ist also, welche Auswirkungen eine Veränderung auf die beiden anderen hat. Zum Beispiel die Frage der politischen Aussöhnung. Wenn Obama einen umfangreichen Truppenabzug ankündigt, wird das die Taliban zu Zugeständnissen ermuntern? Eher nein, falls sie nicht eine verkappte Wohltätigkeitsorganisation sind.
Die USA führen geheime Gespräche mit Taliban-Unterhändlern. Wenn das ein ernsthafter Prozess ist, muss er zur praktischen Erfahrung einer Waffenruhe führen. Die Taliban müssen sehen, dass ihnen Verhandlungen Gutes bringen können. Derselbe Praxistest sollte auf Drohnenangriffe angewendet werden.
Das strategische Ziel ist ein regionaler Entwurf für ein post-amerikanisches Afghanistan. Im Wesentlichen bedeutet das die koordinierte Anstrengung Pakistans, Indiens, Afghanistans und der USA, eine politische Einigung zum Funktionieren zu bringen. Die Herausforderung für Obama bei der Ankündigung eines Truppenabzugs ist also, diesen regionalen Prozess zu unterstützen, nicht ihn zu unterhöhlen.
Ob Afghanistan, Pakistan oder Indien, alle wollen den Abzug der US-Truppen - allerdings nur, wenn dieser nicht ein neues Vakuum erzeugt, das sie verwundbarer macht. "Wir werden nichts Voreiliges tun", hat Obama angekündigt.
Übersetzung: Redaktion Der Autor war Chefredakteur der "International Herald Tribune". Seine Kolumne erscheint auch in der "Washington Post". Originalfassung