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Kein ungeschickter Schachzug

Von Veronika Eschbacher

Politik

Angesichts der wachsenden Spannungen im Osten erwägt die Interimsregierung in Kiew nun eine | Volksabstimmung über die Staatsform des Landes. Das soll den Aufständischen Wind aus den Segeln nehmen.


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Kiew. Auf welcher Seite Menschen im Ukraine-Konflikt stehen, lässt sich auch an ihrer Wortwahl erkennen. Aktuell geht es vornehmlich um die Unterscheidung zwischen "Separatisten" und "Föderalisten". Während die Interimsregierung in Kiew die "Separatisten" im Osten bekämpft, die für eine Unabhängigkeit von Kiew sind und zum Teil als Endziel einen Anschluss an Russland wünschen, sehen diese sich selbst vornehmlich als "Föderalisten", die für mehr Selbstbestimmungsrechte eintreten.

Aber wie man sie auch nennt, sie haben einen nicht unwesentlichen Schritt vorwärts geschafft. Die neue Regierung in Kiew hat angesichts anhaltender prorussischer Demonstrationen, die sich über das ganze Wochenende zogen und auch Todesopfer forderten, überraschenderweise eine Volksabstimmung über die Staatsform der Ukraine in Aussicht gestellt. Übergangspräsident Alexander Turtschinow sagte am Montag, ein Referendum könne am Tag der Präsidentschaftswahl am 25. Mai stattfinden.

"Dabei soll es aber nicht um die Frage einer Abspaltung der Regionen im Osten gehen, sondern darum, ob die Ukraine föderalistisch geführt werden soll oder alles beim Alten bleibt", sagt Viktor Zamjatin, Politanalyst vom Think-Tank Razumkov Centre in Kiew zur "Wiener Zeitung".

Erfüllung der wichtigsten Forderung der Demonstranten

Was auf den ersten Blick aussieht wie ein Kniefall vor den Forderungen Russlands, könnte sich aber als durchaus geschickter Schachzug herausstellen. Vorausgesetzt, das ukrainische Parlament, die Rada, stimmt den Plänen Turtschinows zu, wäre damit die wichtigste Forderung der Demonstranten im Osten des Landes erfüllt. Theoretisch könnten sie nun die Waffen niederlegen und das Referendum abwarten. Tatsächlich aber nahmen Bewaffnete abermals ein öffentliches Gebäude ein: In Horliwka, einem Ort in der Region Donezk, wurde eine Polizeistation gestürmt (siehe Artikel unten).

"Land soll wohl seine Zukunft selbst bestimmen können"

Für Turtschinow dürfte das In-Aussicht-Stellen des Referendums aber auch noch andere Vorteile haben. "Damit wird diese Frage aus der internationalen Diskussion herausgelöst", sagt Zamjatin. Bekanntlich ist für Donnerstag ein Spitzentreffen von Vertretern Russlands, der Ukraine, der USA und der EU in Genf geplant, bei dem es um die Lösung des Ukraine-Konflikts geht. "Die Führung in Kiew will offenbar, dass die Bürger der Ukraine selbst entscheiden, wie sie ihr Land in Zukunft sehen und wie es aufgebaut sein soll", sagt der Analyst.

Generell würde die Föderalisierung bedeuten, dass etwa die Gouverneure der Provinzen nicht mehr von Kiew ernannt, sondern von der Bevölkerung gewählt würden. Die Regionen könnten zudem bestimmen, den Großteil der Steuern in der Provinz zu belassen - für viele Bewohner der östlichen Regionen aufgrund der Korruption der letzten Jahre ein überaus wichtiges Thema. "Von den 100 Prozent an Steuern, die wir überwiesen haben, sind doch nur mehr 30 Prozent übrig geblieben, alles andere wurde gestohlen", sagt etwa Raisa Petrowna, Bewohnerin von Lazavaja, zur "Wiener Zeitung". Die Föderalisierung würde darüber hinaus die Selbstbestimmung der Amtssprachen in den Provinzen erlauben.

Langfristig freilich würde eine Föderalisierung die Regierung in Kiew schwächen und es Russland auch ohne Annexion erlauben, den Osten des Landes enger an sich zu binden.

Turtschinow rechnet sich aber gute Chancen aus, all dies zu verhindern. "Ich bin überzeugt davon, dass der überwiegende Anteil der Ukrainer eine demokratische, zentralistische und unteilbare Ukraine unterstützen würde", sagte er am Montag in Bezugnahme auf das mögliche Referendum. Experten sehen dies ähnlich. "Bisherigen Umfragen zufolge sind nur ein Teil der Ukrainer in den Gebieten Donezk und Lugansk für einen föderalen Staatsaufbau", sagt Zamjatin. "Sonst niemand." Einer Gallup-Umfrage zufolge lehnen 74 Prozent der Ukrainer eine Föderalisierung derzeit ab.

Verfassungsänderungen sollen Lage beruhigen

Manche kleinere Dezentralisierungs-Maßnahmen, die auch Kiew befürwortet, um auf die Menschen im Osten zuzugehen, könnten bereits durch eine Verfassungsreform eingeführt werden. Daran arbeitet Kiew bereits. Turtschinow erklärte am Montag seine Absicht, die Verfassungsreform noch vor den Präsidentschaftswahlen abschließen zu wollen. "Vor allem die Reformen in der Verfassung haben das Potenzial, die Situation im Land zu ändern", sagte Turtschinow und lud auch Vertreter aller Parlamentsfraktionen dazu ein.

Russlands Außenminister Sergej Lawrow forderte nach Turtschinows Ankündigung mehr Informationen über die angekündigte Volksabstimmung. Bezüglich der Verfassungsreform ließ das russische Außenamt über Twitter wissen, dass es erwarte, dass die Bewohner der russisch geprägten Landesteile bei der Ausarbeitung der neuen Verfassung einbezogen würden.