Die türkischen Truppen im Nordirak treten bei ihrem Feldzug gegen die Kurdenmiliz im Norden Syriens auf der Stelle.
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Ankara/Nikosia. Es werde ein kurzer Feldzug werden, verhieß der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan seinem Volk, als er am vergangenen Sonntag über die massive Intervention der "ruhmreichen türkischen Armee" im nordsyrischen Kurdenkanton Afrin sprach, die einen Tag zuvor begonnen hatte. Am Mittwoch sagte Erdogan in Ankara, die "Operation Olivenzweig" gegen die Kurdenmiliz YPG werde bis zur Vernichtung aller "Terroristen" fortgesetzt. Die türkischen Streitkräfte und die mit ihnen verbündete Freie Syrische Armee (FSA) brächten Afrin "Schritt für Schritt" unter ihre Kontrolle. Die YPG ist der syrische Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, die auch in der EU und den USA als Terrororganisation eingestuft ist.
Die Realität stellt sich weniger klar dar. Laut Karten, die das türkische Militär selbst im Internet publiziert, sind die Interventionstruppen bisher nur wenige Kilometer vorangekommen. Tatsächlich treffen sie überall auf erbitterten Widerstand. Während die türkische Regierung am Mittwoch behauptete, dass mindestens 268 YPG-Kämpfern "neutralisiert" - also getötet - worden seien, während man selbst nur acht oder neun Männer verloren habe, dementierte die YPG-Führung diese Zahlen und sprach ihrerseits von "Dutzenden getöteten Angreifern". Auch sei der hochrangige FSA-Kommandeur Ahmad Fajad Al-Khalaf getötet worden.
Erst 16 von 300 Dörfern wurden eingenommen
Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit, heißt es. Das gilt umso mehr für einen Konflikt wie in Afrin, in dem es keine unabhängigen Beobachter gibt. "Man kann nicht sagen, wer momentan korrekte Informationen liefert, aber die Angaben der Türken waren früher oft stark übertrieben", sagt Wladimir von Wilgenburg, niederländischer Journalist und Experte für die Kurdenregion im nordirakischen Erbil. Alles weise jedoch darauf hin, dass die türkische Offensive kaum Fortschritte erziele. Er habe mit Zivilisten und YPG-Kämpfern in Afrin telefoniert, die ihm bestätigten, dass die YPG den Türken einige eroberte Dörfer wieder abgenommen habe. "Deshalb werden seit Dienstag vermehrt Luftangriffe geflogen", sagt van Wilgenburg.
Die schweren Kämpfe haben auf beiden Seiten bereits viele Tote und Verletzte gefordert. Laut Angaben kurdischer Organisationen wurden bis Mittwoch mindestens 29 Zivilisten getötet, darunter mehrere Kinder. Das Krankenhaus der Stadt Afrin rief zu Blutspenden auf. Bereits am Dienstag gaben die Vereinten Nationen bekannt, dass mindestens 5000 Menschen auf der Flucht seien.
Bisher haben die Angreifer nach eigenen Angaben 16 der rund 300 Dörfer in dem mehrheitlich kurdisch besiedelten Gebiet eingenommen. Erdogan kündigte an, die YPG nicht nur aus Afrin, sondern aus dem gesamten syrischen Norden zu vertreiben; die Türkei beschoss auch am Mittwoch nördlicher gelegene kurdische Gebiete in Syrien. Anders als in der mesopotamischen Ebene ist das Gelände in Afrin hügelig, was den kurdischen Verteidigern entgegenkommt. Im Internet verbreitete YPG-Videos zeigen heftige Schusswechsel, die Zerstörung türkischer Panzer und die Rückeroberung einer strategisch wichtigen Anhöhe. "Die Invasoren konnten an keiner Stelle einen Durchbruch erzielen", hieß es in einem YPG-Tweet. Kurdische Medien berichteten sogar von Konflikten zwischen türkischen Soldaten und ihren Hilfstruppen aus der inzwischen mehrheitlich islamistischen Freien Syrischen Armee (FSA). Es sei zu einer Schießerei gekommen.
Während die Regierung in Ankara die YPG als "Terroristen" betrachtet, sind die rund 50.000 kampferprobten YPG-Milizionäre für die US-geführte Anti-IS-Koalition in Syrien die wichtigsten Verbündeten. Zwar werden die kurdischen Verteidiger in Afrin von ihrem großen Bruder nicht aktiv unterstützt, aber die US-Regierung dementierte umgehend Meldungen der staatlichen türkischen Nachrichtenagentur Anadolu, wonach Washington die in Afrin eingesetzten YPG-Kämpfer nicht mehr als Verbündete betrachte. Die Sprecherin des US-Außenministeriums, Heather Nauert, bestritt zudem ebenso wie die YPG-Führung Behauptungen aus Ankara, dass sich in Afrin auch IS-Kämpfer aufhielten. "Wir sehen dort keinen IS", sagte sie.
Dschihadisten kämpfen für die Türkei
Anders als bei der YPG kämpfen Dschihadisten jedoch auf türkischer Seite, wie sogar die regierungsnahe islamistische Istanbuler Zeitung "Yeni Akit" am Dienstag bestätigte. Der tschetschenische Kommandeur Muslim al-Schischani und seine Miliz Junud al-Sham hätten sich den türkischen Truppen angeschlossen. Diese Gruppe ist für ihre Zusammenarbeit mit dem IS berüchtigt, al-Schischani wird von den USA und dem UNO-Sicherheitsrat als Terroristenführer verzeichnet.
Die Türkei führt zur nachträglichen Rechtfertigung ihrer Offensive mehrere Raketenangriffe auf die Grenzstädte Kilis und Reyhanli an, bei denen zu Wochenbeginn mindestens ein Mensch getötet und zahlreiche andere verletzt wurden. Die YPG hat inzwischen mehrfach dementiert, die Geschoße abgefeuert zu haben. Im türkischen Parlament stellt der Abgeordnete Mevlüt Dudu von der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP eine Anfrage zum Angriff auf Reyhanli. Raketen des benutzten Typs fliegen höchstens zwölf Kilometer weit, sie könnten daher nicht in Afrin abgefeuert worden sein.
In der Türkei gehen die Behörden unterdessen rigoros gegen jegliche Kritik an dem Feldzug vor. Mehr als 150 Menschen wurden wegen kriegskritischer Äußerungen in sozialen Medien festgenommen, darunter mindestens fünf Journalisten und vier Politiker der prokurdischen Oppositionspartei HDP. Demonstrationen werden bereits im Ansatz unterbunden.