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Keine Amtshaftung für erschossenen Buben

Von Martina Madner

Politik

Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte befand erstmals über Österreichs Verantwortung bei häuslicher Gewalt. Die Republik muss keine Amtshaftung übernehmen, aber künftig das Tötungsrisiko vorab bewerten.


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Ende Mai 2012 schoss ein 37-jähriger Mann seinem achtjährigen Sohn in dessen Volksschule in Niederösterreich mit einer Pistole in den Kopf und flüchtete. Der Bub wurde mit lebensgefährlichen Verletzungen ins Spital gebracht und dort notoperiert - verstarb aber. Der Vater wurde etwa eine Stunde nach dem Vorfall in seinem verunfallten Wagen auf einem Feldweg gefunden. Er hatte sich mit einem Schuss in den Kopf selbst getötet.

Es war nicht die erste, wenn auch die dramatischste Gewalttat dieses Täters. Er war erst wenige Tage davor wegen Gewalt in der Familie von der Polizei aus der Wohnung weggewiesen worden, und es bestand ein Rückkehrverbot. Die Ehefrau hatte kurz davor die Scheidung eingereicht und den Täter wegen Körperverletzung und gefährlicher Drohung angezeigt. Er hatte Vorstrafen. Trotzdem wurde keine Untersuchungshaft gegen ihn verhängt.

Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) befand nun darüber, ob Behörden und Staat den Buben vor seinem Vater besser schützen hätten können - und müssen. Konkret ging es darum, ob die Republik eine Amtshaftung übernehmen muss und wegen rechtswidrigen Verhaltens der damals handelnden Organe bei der Vollziehung der Gesetze eine Mitschuld am Tod des Buben hatte.

Es war der erste Fall, bei dem die Große Kammer über häusliche Gewalt aus Österreich befand. Das EGMR entschied nun nicht zugunsten der Klägerin, sondern der Republik. Sonja Aziz, Anwältin der Beschwerdeführerin, die Mutter des Buben, spricht nichtsdestotrotz von "wichtigen Grundsätzen", die das Gericht von Staaten künftig für einen besseren Gewaltschutz verlangt.

Die lange Vorgeschichte bei Gericht

Für solche Verfahren braucht man einen langen Atem. Das Landesgericht St. Pölten hatte im November 2014 die Klage der Mutter abgewiesen, das Oberlandesgericht Wien wies ihre Berufung im Jänner 2015 ab, was auch der Oberste Gerichtshof bestätigte. Die Frau brachte im Dezember 2015 beim EGMR einen Antrag ein, der im Juli 2019 schon einmal darüber befand, ob die Behörden es verabsäumt haben, sie und ihre Kinder vor ihrem gewalttätigen Ehemann zu schützen. Grundlage dafür war der Artikel 2 der Menschrechtskonvention, das Recht auf Leben. Im einstimmigen Urteil vom 4. Juli 2019 hieß es damals allerdings, dass vor der Tat "keine erkennbare reale und unmittelbare Gefahr für das Leben der Kinder" bestanden habe.

Die Frau und ihre Anwältin ließen die Sache aber nicht auf sich beruhen, deshalb befasste sich der EGMR nochmals damit, dieses Mal die Große Kammer. Schon bei der Anhörung am 17. Juni 2020 brachte Aziz die Argumente der Mutter ein; Helmut Tichy, Botschafter und Leiter der für Völkerrecht zuständigen Sektion des Außenministeriums, die Argumente der Republik.

Verteidigung argumentiert mit fehlender U-Haft

Aziz argumentierte in der Verhandlung damit, dass die Behörden ihrer Verpflichtung, präventive Maßnahmen zu setzen, nicht nachgekommen seien. Denn diese hätten damals wissen können - oder müssen, dass der Mann eine "reale und unmittelbare Lebensgefahr" für den Buben darstellte. Die Behörden hätten deshalb U-Haft gegen ihn verhängen müssen. Die Polizei aber habe die Staatsanwaltschaft nicht von der Wegweisung informiert, das muss sie erst seit 2017, macht es aber auch seither nicht in allen Fällen.

Weder die österreichische Staatsanwaltschaft noch die Polizei hätten über ein spezielles Instrument zur Risikobewertung verfügt, obwohl das in dem von Österreich 2013 ratifizierten Vertrag zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, der Instanbulkonvention, in Artikel 51 verankert ist. Und: "Sie haben immer noch keine solchen Instrumente", sagt Aziz zur "Wiener Zeitung". Außerdem hätten sich die Behörden der Dynamik von Gewalt bewusst sein müssen, aber falsche Schlüsse aus den Taten davor gezogen.

Die Frau hatte die Polizei auf mehrere Risikofaktoren hingewiesen: Eine Verurteilung im Jahr 2010 wegen Körperverletzung und gefährlicher Drohung, die Spielsucht ihres Mannes sowie daraus resultierende Aggressionen. "Er hat ihren Scheidungswunsch nicht akzeptiert, immer wieder gedroht, die Kinder zu töten, falls sie ihn verlässt, und hat diese auch geschlagen", sagt Aziz auch im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Häufigkeit und Intensität der Gewalt hätten zugenommen, "bei der Anzeige waren ja noch Spuren sichtbar", diese seien von der Polizei fotografiert worden. Die Frau sei auch nicht nach Waffen befragt worden, "denn dann hätte sie ihnen sagen können, dass er ihr immer wieder mal gesagt hat, dass es für ihn ein Leichtes sei, sich eine Waffe zu besorgen. Ein Anruf hätte genügt."

"Niemals in der Öffentlichkeit aggressiv"

Tichy als Vertreter des Staates zog Passagen des Grevio-Berichts von Expertinnen und Experten aus dem Gewaltschutz heran, um die "langjährige Tradition des Gewaltschutzes" in Österreich zu untermauern. Zum konkreten Fall sagte er, dass die Frau nach dem Betretungsverbot per Flugblatt informiert worden sei, dass sie auch eine Einstweilige Verfügung gegen den Täter beantragen hätte können. Damit wäre der Täter vom Betreten der Schule abgehalten worden. Die Beschwerdeführerin selbst habe also "nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft". Aziz - und auch die überstimmten Richter später - sagen allerdings, dass nicht die von Gewalt Betroffene die Verantwortung dafür hat, eine drohende Lebensgefahr abzuwenden.

Die Polizei habe laut Tichy auch überprüft, ob Waffen auf den späteren Täter registriert worden seien, "mit negativem Ergebnis". Der Täter sei "ruhig und kooperativ" gewesen, zudem "niemals in der Öffentlichkeit gewalttätig und aggressiv". Wegweisung und Betretungsverbot hätten deshalb ausgereicht, "um den Gewaltkreislauf zu durchbrechen". Auch, dass die Frau von einem Gewaltschutzzentrum beraten wurde, was die Polizei wusste, sei ein Zeichen dafür gewesen, dass Letztere genug getan habe, um die Familie zu schützen. Polizei und Staatsanwaltschaften hätten "rasch und zielgerichtet" gehandelt. Der Fall zeige die "Limits" der Prävention von weiterer Gewalt auf. "Für niemanden war vorhersehbar, was drei Tage später passieren würde."

Sieben zu zehn zugunstender Republik

Mit sieben zu zehn Stimmen entschieden die EGMR-Richterinnen und Richter nun gegen die Beschwerdeführerin zugunsten der Republik: Das Handeln der Behörden war "keine Verletzung von Artikel 2", des Rechts auf Leben.

Was Aziz aber für künftige Opfer von Gewalt freut, ist, dass die Große Kammer damit bekräftigte, dass Behörden dazu verpflichtet sind, "eine eigenständige, proaktive und umfassende Bewertung des Tötungsrisikos vorzunehmen". Auch in den abweichenden Meinungen der sieben unterlegenen Richter ist Spannendes zu finden: Österreich verwende "kein nationales oder regionales standardisiertes Instrument" für die "Risikobewertungen der Tödlichkeit in Fällen häuslicher Gewalt". Behörden müssten auch prüfen, ob er Zugang zu illegalen Waffen hat. Nicht nur von Gewalt betroffene Frauen, sondern auch Kinder seien zu berücksichtigen: eine Anregung, die die Behörden aufgreifen könnten - "und im Sinne künftiger Gewaltprävention müssen", sagt Aziz