Zum Hauptinhalt springen

Keine Angst vor dem Brexit

Von Walter Feichtinger

Gastkommentare

Eine sicherheitspolitische Bestandsaufnahme.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 5 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Es ist zweifelsohne keine Stärkung der EU-Position im globalen Wettbewerb, wenn das militärisch leistungsfähigste Land die EU verlässt. Großbritannien ist eine Vetomacht im UN-Sicherheitsrat und neben Frankreich die zweite europäische Atommacht. In der Realpolitik relativiert sich allerdings der Wert dieser Assets, weil die Regierung in London diese beiden strategischen Karten nie "im Namen der EU" gespielt hat.

Sieht man von daher von der primär politisch-psychologischen Dimension des Brexit-Schocks einmal ab, kann man dem EU-Austritt Großbritanniens aus europäischer Perspektive relativ entspannt begegnen. Denn während sich die Anzeichen für einen harten - oder chaotischen - Brexit mehren, gibt es im sicherheitspolitischen Bereich keine alarmierenden Signale. Dafür gibt es drei Gründe:

Sicherheitspolitik ist kein vergemeinschafteter Bereich, die Entscheidungskompetenz liegt somit nicht in Brüssel, sondern in den Hauptstädten der einzelnen EU-Staaten.

Großbritannien war nie ein Befürworter des "europäischen Weges", sondern ein Verfechter der Nato.

Der operative Beitrag Großbritanniens für die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) war von Beginn an eher bescheiden und zurückhaltend.

Keine gemeinsame Verteidigung der EU-Staaten

Zum ersten Punkt - keine vergemeinschaftete Materie: Nationale Sicherheit und Verteidigung gelten als Inbegriff von staatlicher Souveränität. Es war daher bisher in der EU unvorstellbar, diesbezügliche Entscheidungskompetenzen an Brüssel abzutreten. Zwar ist die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik seit etwa zwei Jahrzehnten ein integraler Bestandteil der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU - doch der Titel trügt. So findet sich im gültigen EU-Vertrag zwar der Hinweis auf "die schrittweise Festlegung einer Verteidigungspolitik", die wiederum, "sobald der Europäische Rat das einstimmig beschließt, zu einer gemeinsamen Verteidigung führt" - doch dazu ist es bisher nicht gekommen.

Die GSVP ist somit unverändert eine intergouvernmentale und keine vergemeinschaftete Materie. Das heißt: Jedes Mitglied bringt sich in dem Umfang ein, den es frei wählt, es gibt keine Gemeinschaftsbeschlüsse, die einen Zwang bewirken könnten. Allerdings haben sich die EU-Mitglieder bereits zu gegenseitigem Beistand im Falle eines bewaffneten Angriffs auf einen EU-Staat sowie zur gegenseitigen Solidarität im Falle terroristischer Attacken (abseits der GSVP) verpflichtet. Diese Verpflichtungen würden im Falle eines Brexit für das Vereinigte Königreich wegfallen - umgekehrt aber auch die Notwendigkeit der verbleibenden EU-Mitglieder, Großbritannien in diesen Anlassfällen beizustehen.

Bisher wurden im EU-Rahmen keine Arbeitsgruppen eingerichtet, die sich mit den sicherheitspolitischen Konsequenzen eines Brexit auseinandersetzen würden. Das kann auch als Zeichen dafür stehen, dass diese Materie als vergleichsweise unproblematisch eingestuft wird.

Großbritanniens politischer Bremseffekt fällt weg

Zum zweiten Punkt - Großbritannien als Verfechter der Nato und GSVP-Skeptiker: Die ab 1999 entwickelte GSVP wurde damals als Möglichkeit gesehen, der EU zu einem stärkeren außenpolitischen Profil zu verhelfen und gleichzeitig durch eine intensivierte verteidigungspolitische Zusammenarbeit die Vertiefung voranzutreiben. Das Tor für die GSVP haben interessanterweise der französische und britische Staatschef schon 1998 in Saint Malo aufgestoßen, als sie sich nach der Hilflosigkeit und Handlungsunfähigkeit der EU im Zuge der jugoslawischen Zerfallskriege für den Aufbau eigenständiger militärischer Fähigkeiten und Kapazitäten im EU-Rahmen ausgesprochen haben. Die vertraglichen Festlegungen erfolgten im 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon.

Die Umsetzung blieb aber deutlich hinter den Erwartungen zurück, häufig wurde Großbritannien als "Bremser" dafür verantwortlich gemacht. So hat es zum Beispiel im Mai 2017 den Aufbau eines EU-Planungselements für gemeinsame Militäreinsätze der EU-Staaten blockiert. Es folgte dabei der Maxime von US-Außenministerin Madeleine Albright, die im Anschluss an San Malo hinsichtlich der Entwicklung der GSVP vor den drei "Ds" warnte: "Delinking", "Discrimination" und "Decupling". Einfach ausgedrückt: Es sollten keine eigenständigen europäischen Militärkapazitäten und Entscheidungsmechanismen aufgebaut, sondern eine optimale (untergeordnete) Kooperation mit der Nato gefunden werden.

Vor diesem Hintergrund unterstützte Großbritannien das Berlin Plus-Abkommen zwischen der Nato und der EU, wodurch die EU auf Nato-Ressourcen zurückgreifen kann, sofern die Nato nicht selbst agiert. Dazu gehörte zum Beispiel, dass Großbritannien ein operatives Kommando (Northwood) für EU-Einsätze (Eufor Bosnien/Herzegowina, Eufor Atalanta) zur Verfügung stellte. Das ist allerdings bereits Geschichte - das Kommando wird mittlerweile gemeinsam von Spanien (Rota) und Frankreich (Brest) gestellt.

Der politische Bremseffekt der Briten fällt somit weg, was bereits erste Fortschritte gebracht hat. So beschloss der Großteil der EU-Mitglieder Ende 2017, durch eine Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (Pesco) der GSVP einen kräftigen Impuls zu geben.

Schon bisher teils bescheidene finanzielle Beteiligung

Zum dritten Aspekt - Großbritanniens operativem Beitrag zu Aktivitäten der GSVP: An den zivilen Missionen und militärischen EU-Operationen haben sich die Briten im Durchschnitt mit weniger als
5 Prozent des Personals beteiligt. Ähnlich bei der Finanzierung: Sie zahlten zwar etwa 15 Prozent in den gemeinsamen Topf für Auslandseinsätze ein - das ist aber sehr bescheiden, wenn man bedenkt, dass die eigentlichen Kosten für Auslandseinsätze durch die teilnehmenden Staaten zu tragen sind. Der gemeinsame Topf macht daher nur rund 10 Prozent der Gesamtkosten aus.

Die Teilnahme an den Battlegroups - das sind jene 1500 Mann starken Krisenreaktionskräfte, die im Auftrag der EU quasi auf Knopfdruck weltweit eingesetzt werden können - wurde bereits eingestellt. Aufgrund der Unsicherheiten hat das britische Verteidigungsministerium erklärt, dass es nicht wie vorgesehen im zweiten Halbjahr 2019 die Führung einer Battlegroup übernehmen werde. Andere EU-Staaten sind bereits in die Bresche gesprungen.

Wichtige Rolle im Nachrichtendienst

Kritischer ist Großbritanniens Rolle im gemeinsamen Rüstungssektor zu sehen. So zahlte es etwa 16 Prozent für die gemeinsame Verteidigungsagentur - immerhin an die 4,5 Milliarden Euro jährlich. Außerdem musste sich das Vereinigte Königreich aufgrund einer EU-Entscheidung bereits aus dem europäischen Navigationssysteme Galileo zurückziehen, obwohl es einen erheblichen Anteil (gut 1,3 Milliarden Euro) zum Aufbau beigetragen hatte.

Hervorzuheben ist hier auch die britische Mitwirkung im nachrichtendienstlichen Bereich. Das Land verfügt über ausgezeichnete Expertise in diesem Feld, der Rückzug britischen Personals aus EU-Einrichtungen stellt zweifellos eine Schwächung dar. Noch entscheidender wird aber sein, wie weit man in London in Zukunft bereit sein wird, auf nationaler Ebene gesammelte Kenntnisse mit der EU auszutauschen. Das britische Nachrichtenwesen genießt höchste Anerkennung im Kreise aller EU-Mitglieder, es hat bisher äußerst wertvolle Beiträge geliefert.

Die Zusammenarbeit im sicherheitspolitischen Bereich kann in Zukunft von beiden Seiten individuell bestimmt und frei vereinbart werden. Britische Vertreter haben bisher mehrfach betont, dass sie an einer möglichst intensiven Kooperation interessiert seien. Denn auch bei einem Austritt bliebe die Sicherheit Europas und Großbritanniens weiterhin eng verwoben. Es ist daher in beiderseitigem Interesse, umfassend und eng zusammenzuarbeiten. Dafür wird aber wohl eine zweckmäßige und zufriedenstellende politische Konstruktion notwendig sein. Der Status eines "Drittstaats", den die EU für die sicherheitspolitische Kooperation mit anderen Staaten bereits etabliert hat, wird der Regierung in London vermutlich zu wenig sein - verständlicherweise, schließlich hat Großbritannien wesentlich mehr für den Aufbau der EU und der GSVP geleistet als andere Kooperationspartner.

Kaum Konfliktstoff,aber Verhandlungsbedarf

Birgt der Brexit also doch auch Konfliktstoff in der Sicherheitspolitik? Eher nein, es besteht aber Verhandlungsbedarf. Dabei bleibt zu hoffen, dass Sicherheit auf beiden Seiten einen besonderen Stellenwert hat und daher Rationalität über Effekthascherei steht. Ganz abgesehen davon bleibt Großbritannien ja Nato-Mitglied und ist daher ein wesentlicher Baustein der transatlantischen Verteidigung.

Trotz aller denkbaren und unerwarteten Effekte bleibt aber eines festzuhalten: Die Sicherheit Europas im umfassenden Verständnis und die Entwicklung der GSVP werden viel stärker vom Gestaltungswillen und vom Handlungsvermögen der verbleibenden 27 EU-Mitglieder als von den Folgen des Brexit abhängen.

Zum Autor