Eurogruppen-Chefkoordinator Wieser kritisiert Versäumnisse Griechenlands - und räumt Fehler in der Eurozone ein.
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"Wiener Zeitung": Welchen Sinn haben Regeln, wenn sie ins Chaos führen?
Thomas Wieser: Welche Regeln führten denn ins Chaos?
Da gibt es unterschiedliche Auffassungen. Eine davon bezieht sich auf die Rolle europäischer und anderer Institutionen, die mit ihren rigiden Vorschriften Griechenland und seiner Wirtschaft die Luft abzuschnüren drohen.
Griechenland ist in einem schrecklichen Zustand. Selbstverständlich stellt sich die Frage, warum. Zum sechsten Mal in seiner Geschichte wäre das Land zahlungsunfähig - falls es dazu kommen würde. Doch das wird es nicht. Das wesentliche Problem begann vor vielen Jahren, als Griechenland sich in überbordendem Ausmaß nicht an fiskalische Regeln gehalten hat. Und dann trat es der Eurozone bei - das war ein Fehler beider Seiten. Im Fall Griechenlands war es ein Fehler, sich nicht an die fiskalischen Vorgaben zu halten, und im Fall der Eurozone war es gerade das Festhalten an den Regeln. Denn auf dem Papier waren die Vorschriften erfüllt.
Und das Unglück nahm seinen Lauf?
In der Währungsunion war das Land dann offensichtlich nicht so wie andere in der Lage, dem Wettbewerbsdruck dieser Gemeinschaft - und noch weniger dem internationalen - standzuhalten. Daher hat es mehr und mehr Menschen in unproduktive Beschäftigungsverhältnisse gebracht, um offene Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Diese versteckte Arbeitslosigkeit nahm die Form von Frühpensionierungen an sowie massiver Aufnahme in den öffentlichen Dienst. Die Zahl der Bediensteten bei der Eisenbahn etwa wuchs in wenigen Jahren von 1000 auf 7000. Aber da Griechenland in der Eurozone war, konnte es sich problemlos verschulden - komme, was wolle. Die Regeln der Fiskalpolitik innerhalb und außerhalb der Währungsunion hat es nicht beachtet. Teile der EU-Kommission haben dabei weggeschaut. Noch dazu haben die Mitgliedstaaten der europäischen Statistikbehörde den Einblick in ihre Zahlen verwehrt. Das war ein letales Bestehen auf scheinbarer Souveränität.
Manche Ökonomen weisen darauf hin, dass die schwache Wettbewerbsfähigkeit und Verschuldung anderen Staaten durchaus willkommen war. Deutschland etwa konnte seine Waren verkaufen und hat mit seiner Exportstärke zu den Ungleichgewichten beigetragen.
Wenn man sich die historische Datenlage ansieht, so ist dieser Vorwurf über längere Fristen hinweg sogar bei sehr oberflächlicher Betrachtung unbegründet. Deutschland wurde seit Mitte der 1990er-Jahre bis fast zur Mitte des letzten Jahrzehnts als "der kranke Mann Europas" bezeichnet. Damals wäre niemand auf die Idee gekommen, Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit als Problem zu bezeichnen. Das wird von einigen völlig verdrängt. Faktum ist natürlich, dass Deutschland nach Meinung fast aller internationaler Organisationen durchaus fiskalischen Spielraum hätte, durch mehr öffentliche Investitionen sein Wachstum anzukurbeln. Dass man ein Defizit jenseits 15 Prozent des BIP nur allmählich abbauen soll, ist eine ökonomisch unvernünftige Forderung. Das Pro-Kopf-BIP in Griechenland ist trotz alledem nach wie vor über dem Niveau von 2000 - leider mit einer massiv verschlechterten Verteilung von Einkommen und Beschäftigung.
Doch wird Deutschland nun von einigen als der böse Mann gesehen, der Europa seine Vorstellungen aufzwingen will. Was ist passiert?
Ich halte nichts vom Deutschen-Bashing. Und auch nichts vom Griechen-Bashing. Das ist ein Zeichen von Nationalismus und Chauvinismus. Man sollte nicht Vorurteile vertiefen, sondern sich an Fakten halten.
Eine Tatsache ist aber, dass sich beim EU-Sondergipfel in der Vorwoche der Streit zwischen Deutschland und Griechenland zugespitzt hat. Hat es zuvor hingegen nicht Einigkeit in der Eurogruppe, unter den 18 übrigen Mitgliedern gegeben - sie alle gegen Griechenland?
Es stimmt, dass seit Februar (als das zweite Hilfsprogramm verlängert wurde) die Meinung innerhalb der Eurogruppe einhellig war. Weil die griechische Seite den Eindruck vermittelt hat, unseriös zu verhandeln oder gar auf unseriöse Weise überhaupt nicht zu verhandeln. Das wird im Nachhinein von Aussagen des früheren Finanzministers bestätigt, der angibt, er wollte gegenüber der EZB (Europäische Zentralbank) zahlungsunfähig sein und die griechische Zentralbank übernehmen. So ein Plan kann nur einem Schreibtischtäter einfallen, weil er das Leid in der Bevölkerung ignoriert und Griechenland innerhalb kürzester Zeit aus dem Euroraum katapultiert hätte.
Waren die Verhandlungen zwischen Februar und Juni also Spiegelfechterei?
In diesem Kontext war es ein Fehler der Eurogruppe, dem Ansuchen der Griechen um eine Verlängerung des Programms um vier Monate zuzustimmen. Denn wenn die Griechen sich am Ende der Verhandlungen sowieso für zahlungsunfähig erklären hatten wollen, dann hätte es eine zweimonatige Verlängerung auch getan. Das hätte den tiefen Fall der griechischen Wirtschaft und die damit verbundenen Probleme für die Bevölkerung um zwei Monate verkürzt. Dazwischen waren die Ankündigungen aus Athen Schall und Rauch. Mit Ausnahme von zwei Gesetzen wurde nichts wie versprochen umgesetzt. Im Gegenteil: Die vorher privilegierten Bevölkerungsgruppen wurden weiterhin privilegiert.
Wird sich das nun ändern? Das Parlament in Athen hat schon ein erstes Reformpaket beschlossen.
Wir hoffen sehr, dass die Gesetze tatsächlich implementiert werden. Es hängt nun von der politischen Klasse in Griechenland ab, ob sie das System des Klientelismus durchbrechen will. Teil des vereinbarten Programms sind strukturpolitische Reformen, die zu einem Abbau dieser Kartelle, Oligopole und geschützten Sektoren führen sollen, was sicher nicht sofort, sondern erst später der griechischen Bevölkerung zugutekommen wird. Schon vor vier Jahren hat Griechenland versprochen, ein allgemeines Sozialversicherungs-System einzuführen. Es ist aber drei Regierungen hintereinander nicht gelungen, ein tragfähiges soziales Netz zu errichten. Erst dann ließe sich das Pensionssystem reformieren und aktive Arbeitsmarktpolitik machen. Aber eine der dringlichsten Maßnahmen jetzt ist eine Stabilisierung des Finanzsektors. Das wird Wochen und Monate dauern.
Griechenland braucht aber schnell eine finanzielle Überbrückung. Warum wird nun der Stabilitätsmechanismus EFSM dafür verwendet?
Athen kann noch keine Finanzhilfe aus dem Rettungsschirm ESM erhalten, weil das nicht in wenigen Tagen verhandelbar ist. Daher gab es wenige Finanzierungsmöglichkeiten, und eine davon war der EFSM, der allerdings seit 2011 stillgelegt ist. Dennoch ist er eine funktionierende Rechtsgrundlage.
Er wurde aber auch von Nicht-Eurostaaten getragen, die sich nicht an weiteren Rettungsmaßnahmen beteiligen wollten. Vor allem die Briten legten Widerspruch ein. Wie konnten sie überzeugt werden?
Es ist uns gelungen, eine Konstruktion zu schaffen, die verhindert, dass - falls es bei diesem Kredit zu Ausfällen kommt - die Nicht-Euroländer die budgetären Schäden tragen müssen. Gleichzeitig müsste Griechenland dafür im Laufe der nächsten Jahre durch einen geringeren Abruf seiner Mittel aus den EU-Strukturfonds geradestehen. Diese Eindämmung des Risikos überzeugte jedenfalls die Briten. Anders wäre es nicht möglich gewesen, das griechische Bankensystem vor einem Kollaps zu retten - und der wäre auch nicht im Interesse Großbritanniens, ganz zu schweigen vom Interesse Europas.
Die Einigung mit Griechenland am Wochenende war ebenfalls von europäischem Interesse. Aber hat sie Europa nicht auch viel gekostet? Hat die EU viel an Vertrauen, Verständnis eingebüßt? Wie nah waren wir an einem Bruch?
Das Resultat bei keiner Einigung wäre nicht ein Auseinanderbrechen der Eurozone gewesen, sondern dass Griechenland den Währungsraum verlassen hätte. Das wurde von wesentlichen Teilen der griechischen Regierungspartei Syriza auch angestrebt. Das Vertrauen in den Willen und die Fähigkeit der griechischen politischen Klasse, Vereinbarungen einzuhalten, ist aber im Laufe der vergangenen fünf Jahre erodiert. Das ist nicht erst nach der Wahl der jetzigen Regierung plötzlich passiert. Das hat das Klima in der Eurogruppe mit der Zeit deutlich verschlechtert, und daher werden Vorleistungen gefordert.
Ist es aber zielführend, eine "Auszeit" von der Euro-Mitgliedschaft ins Gespräch zu bringen, wie es der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble getan hat?
Ich verstehe Wolfgang Schäuble so, dass es für ihn als überzeugten Europäer untragbar erscheint, dass jemand, der sich reell gegen alle europäischen Vereinbarungen benimmt, Platz in einem der größten europäischen Projekte hat. Insofern kommt er vielleicht zu einem ähnlichen Ergebnis wie so mancher griechischer Regierungspolitiker - aber aus völlig anderen Gründen. An eine Auszeit auf Zeit glaube ich jedoch nicht. Aus Schäubles Sicht ist ein Kontinent des politischen Zusammenhaltes wünschenswert, und dazu gehört, sich an gemeinsame Spielregeln zu halten. Wie wir in den letzten Jahren gesehen haben, gibt es dabei jedoch nach oben und unten deutliche Toleranzschwellen.
Thomas Wieser
Der 1954 geborene Österreicher zählt zu den anerkanntesten Finanzexperten Europas. Seit 2012 ist Wieser Chef-Koordinator der Eurogruppe, also des Gremiums der 19 Finanzminister der Eurozone. In seiner Arbeitsgruppe wurden unter anderem die Hilfsprogramme für Griechenland, Irland, Zypern und Portugal vorbereitet.