Liste der verschwundenen Aktivisten wird offenbar immer länger.
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Kiew. "Bis wir gewonnen haben", sagt Serhii auf die Frage, wie lange er noch auf dem Unabhängigkeitsplatz bleiben wolle. Seit 29. November ist er durchgehend hier - nicht nur tagsüber, auch nachts. Er lebt in einem der zahlreichen Zelte, die von der Paradestraße Kreschatik über den Unabhängigkeitsplatz Maidan verstreut aufgestellt sind. Serhii, mit schwarzer Gesichtsmaske, die er aber immer wieder herunterzieht und sein pockennarbiges Gesicht und einen Schnauzer mit ersten grauen Haaren freigibt, weiß von all seinen unmittelbaren Kollegen hier am Maidan das genaue Datum, wann sie dazugestoßen sind. Er trägt eine Camouflage-Uniform - weil er Jäger ist, witzeln seine Kollegen. Und obwohl gerade eben die Nachricht die Runde machte, dass der ungeliebte Premier Mykola Asarow zurückgetreten ist - und mit ihm die gesamte Regierung - und die Einschränkung des Demonstrationsrechts wieder aufgehoben wurde, will bei dem 46-Jährigen keine Feierstimmung aufkommen. "Das ist nur ein erster Schritt zum Sieg."
Und während Serhii ob der Kälte - es hat minus 15 Grad, der Wind pfeift ihm um den eng angeschnallten Helm - von einem Bein auf das andere wippt, um sich warm zu halten, ziehen Menschentrauben an ihm vorbei Richtung Unabhängigkeitsplatz. Der Himmel ist wolkenverhangen, der Geruch von verbrannten Autoreifen und offenen Feuerstellen liegt in der Luft. Viele Menschen tragen ganz normale Winterkleidung - und Motorradhelme. Manche wiederum sind im Skianzug unterwegs. Nicht wenige tragen Splitterschutzwesten, Helm und haben Baseballschläger oder Schlagstöcke am Rücken fixiert. Das scheint hier aber niemanden mehr zu irritieren.
"Hier sind wir alle Ukrainer"
Serhii ist im Brotberuf Koch. Den hat er aber vorerst stillgelegt, immerhin hat er jetzt Wichtigeres zu tun. Während er seinen Blick auf die vorbeiziehenden Menschen fixiert hält, philosophiert er über Menschenrechte, über die Korruption, die seine Heimat an den Rand des Abgrunds getrieben hat und welche Verfassung für sein Land die richtige wäre. Dass die Demonstrationen das Land zunehmend in nationalistische Westukrainer und pro-russische Ostukrainer spalte, will er nicht gelten lassen. "Hier am Maidan sind wir alle Ukrainer, es gibt keinen Unterschied, ob jemand aus dem Westen oder dem Osten des Landes kommt", gibt er sich überzeugt, Ziel sei alleine, den Präsidenten Viktor Janukowitsch, der so viel Unheil über das Land gebracht hätte, zu stürzen. Freilich - nicht wenige Meter von ihm entfernt stellen sich andere Demonstranten taub, wenn man sie auf Russisch, der Mehrheitssprache im Osten des Landes, anspricht. "Russisch verstehen wir hier nicht."
Und auch wenn er gerade nicht arbeite, fehle es ihm an nichts, sagt Serhii. Er werde von den Menschen unterstützt. Über das ganze Gebiet, das die Demonstranten im Zentrum mit Reifen, gefüllten Plastiksäcken, Holz und Stacheldraht verbarrikadiert haben - außerhalb nimmt das Leben seinen gewohnten Lauf -, sind Plastikboxen verteilt, in die Vorbeigehende Geld werfen. Frauen laufen den Maidan mit belegten Broten auf und ab, andere wiederum bringen warme Kleidung vorbei. "Wir werden sogar von der ukrainischen Diaspora unterstützt", sagt Serhii. Erst gestern seien 200 Kilogramm Lebensmittel aus Italien eingetroffen. "Feinste Salami", lacht er.
Und während Serhii an seiner Zigarette zieht, schallt von der Hauptbühne laute Musik in seine Richtung. Die Videowall zeigt den zahlreichen Davorstehenden einen Film über den Holodomor, die sowjetische Hungersnot 1932, bei der 3,5 Millionen Ukrainer umkamen. Manche sehen gebannt auf die bedrückenden Schwarz-Weiß-Bilder, andere wiederum sind beschäftigt - von Schachspielen bis hin zum Errichten neuer Barrikaden. Dann zieht ein Trupp älterer Frauen vorbei, die gemeinsam Kirchenlieder zu Ehren der bisher bei den Demonstrationen Umgekommenen singen, manche, an denen sie vorbeiziehen, bekreuzigen sich. Die Stimmung ist freundlich.
Menschen verschwinden
Davon soll man sich aber nicht täuschen lassen, warnt Serhii. In der gesamten Sperrzone, deren Ein- und Ausgänge von vermummten und mit Schlagstöcken ausgestatteten Demonstranten kontrolliert werden, sieht man keinen einzigen Polizisten. "Innerhalb dieser Zone sind wir sicher, das ist geschütztes Gebiet", sagt er. "Draußen aber sind wir fällig." Polizisten von Spezialeinheiten würden sich in Zivil in der Zone befinden und die Demonstranten ausmachen. Und, wenn sich dann außerhalb die Gelegenheit ergibt, zuschlagen. Die Liste verschwundener Aktivisten würde so immer länger.
Ob er denn keine Angst vor den radikalen Demonstranten habe, die sich nicht mehr kontrollieren lassen? Serhii verzieht den Mund zu einem Lächeln und verneint. "Ich bin selber einer von ihnen", sagt er und gesteht gleichzeitig, dass er bereits Molotow-Cocktails auf Berkut-Polizisten geworfen habe, nicht nur einmal. Freilich nur, weil er zuvor provoziert worden war. Dann langt er in eine seiner unzähligen Taschen auf dem Militärgilet, zieht sein Handy heraus und hält es trophäengleich vor seiner Brust. Der Bildschirm ist zersplittert - von einem Gummigeschoss der Polizisten, wie er sagt. Und er ist bereit, noch mehr einzustecken. "Wir werden weiter hier stehen und kämpfen", sagt er, "bis sie alle Forderungen erfüllt haben."