Danzig - "Die Streiks vom August 1980 interessieren mich nicht", sagt der 26-jährige Karol. Er arbeitet als Schweißer auf der Danziger Werft - dort, wo die Demokratiebewegung im Ostblock 1980 ihren ersten Sieg errang. Am 31. August, genau 20 Jahre nachdem in Danzig Regierung und streikende Arbeiter das Dokument zur Gründung der Gewerkschaft Solidarnosc unterzeichneten, soll auf der Werft ein Schiff zu Wasser gelassen werden. "Da wird es weder Fanfarenstöße noch Gäste geben", bestätigt Werft-Sprecher Roma Sokolowska.
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Die dreitägigen Veranstaltungen zum Gedenken an die Solidarnosc-Gründung, an denen ab Dienstag Regierungschefs aus mehreren Ländern teilnehmen, stoßen in Polen nur auf geringes Interesse. Denn die ehemals mächtige Bewegung Solidarnosc stellt zwar die Regierung in Warschau, hat aber einen mehr als schweren Stand.
Das war anders im Frühsommer 1980, als das überbetriebliche Streikkomitee der Danziger Lenin-Werft unter Lech Walesa das Recht auf Gründung einer unabhängigen Gewerkschaft forderte. Die Streikwelle zwang die kommunistische Regierung zum Einlenken. Mit einem großen Kugelschreiber mit dem Abbild von Papst Johannes Paul II. unterzeichnete Walesa, gemeinsam mit dem damaligen stellvertretenden Ministerpräsidenten Mieczyslaw Jagielski, am 31. August 1980 ein historisches Dokument. Die Unterschriften beendeten den Streik in der Danziger Werft und ließen die Solidarnosc als erste freie Gewerkschaft in Polen zu. Dieser Schritt setzte eine Dynamik in Gang, die zum Fall der Berliner Mauer neun Jahre später wesentlich beigetragen hat.
Heute hat die Gewerkschaft Solidarnosc die zersplitterten Konservativen in dem Wahlbündnis Solidarität (AWS) versammelt. Die AWS-Minderheitsregierung in Warschau wird von der liberalen Freiheitsunion (UW) unterstützt. Nach den Wahlen 1997 hatten die beiden Parteien eine Koalition gebildet, die jedoch im Mai dieses Jahres zerbrach. Der Machterhalt bei den Parlamentswahlen im Jahr 2001 ist mehr als bedroht: In Meinungsumfragen kommt die AWS auf magere 14 Prozent der Wählerstimmen, die UW sogar nur auf neun Prozent. Noch schlechter stehen die Chancen der AWS bei den Präsidentschaftswahlen am 8. Oktober dieses Jahres. Lediglich acht Prozent der Wähler wollen Umfragen zufolge für AWS-Parteichef Marian Krzaklewski stimmen.
Walesa, dem sein Wirken an der Spitze der Solidarnosc 1983 den Friedensnobelpreis eingebracht hatte, will mit seinen früheren Weggefährten nichts mehr zu tun haben. Von dem Instrument im Kampf gegen den Kommunismus seien bloß "drittklassige Aktivisten" übriggeblieben, die "alles tun, um ihre Posten zu behalten. Das ist eine Oligarchie, eine degenerierende Bürokratie", urteilt der 57-Jährige in einem Interview mit der Nachrichtenagentur AFP. Vorwürfe erhebt der frühere Gewerkschaftsführer auch gegen den Westen, den er für die gegenwärtigen Probleme der osteuropäischen Länder verantwortlich macht. Statt die Entwicklung im Osten zu unterstützen, "hat der Westen unsere Märkte erobert. Wegen dieses Verhaltens haben wir heute Probleme", klagt Walesa.
Mit massenhafter Beteiligung der Belegschaft der Werft können die Veranstalter des Jahrestags wohl nicht rechnen. Das Unternehmen soll "kein Freiluftmuseum werden", meint der stellvertretende Direktor und frühere Solidarnosc-Vorsitzende der Werft, Jerzy Borowaczak. "Wir haben zuviele politische Symbole in Polen, und die Wiege der Solidarnosc ist heute nicht das wichtigste."