Die Solidarität wird zwar gerne und ausgiebig beschworen und kann auch Teilerfolge verbuchen, aber die Bereitschaft, auch auf zusätzliche Privilegien zu verzichten, ist nicht sehr ausgeprägt.
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Hehre Grundsätze, die am grünen Tisch ersonnen wurden, halten der Konfrontation mit der Praxis und in der Praxis nicht stand. Für diese Behauptung gibt es genügend Beispiele aus der Vergangenheit, aber auch in der Gegenwart. So geraten die sozialistischen Grundsätze des unentgeltlichen und unbeschränkten Zuganges zu den Universitäten in Kollision mit der Wirklichkeit, die durch die Knappheit der Ressourcen und des zur Verfügung stehenden Raumes zu einem Umdenken zwingt. Friedrich Schillers Wort "Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen" erfüllt sich in diesem Fall wie in anderen ähnlich gelagerten geradezu wörtlich.
Auch Beispiele aus anderen Ländern illustrieren, dass überspannte Erwartungen und übertriebene Leistungen auf Dauer nicht aufrechterhalten werden können. So hat die von der Labour Party in England nach 1945 eingeführte kostenlose medizinische Versorgung zu Exzessen und Missbräuchen, vor allem auch durch Ausländer, die in die großzügigen Maßnahmen eingeschlossen waren, geführt, sodass lange vor Margaret Thatcher gegengesteuert und eingeschränkt werden musste. Entfesseltes Wunschdenken stößt früher oder später an die Grenzen der Machbarkeit und Finanzierbarkeit.
Nicht nur sozialistische Regierungen und Bewegungen mussten die traurige Erfahrung machen, erhebliche Abstriche von ihren Idealen machen zu müssen. Auch christdemokratische Parteien mussten erleben, dass der programmatisch bemühte und hochgepriesene Gedanke der Solidarität, der vor allem im ÖAAB eine große Rolle spielte, in der Praxis einen viel geringeren Stellenwert einnimmt als angenommen.
Alfred Gusenbauer hat sich durch die Formel "solidarische Hochleistungsgesellschaft" darum bemüht, einen Ausgleich zwischen verschiedenen Postulaten herbeizuführen, hat aber gerade durch diese Formel demonstriert, dass es sich nicht um einander ergänzende, sondern einander entgegengesetzte Zielvorstellungen handelt.
Die Solidarität wird zwar gerne und ausgiebig beschworen und kann auch Teilerfolge verbuchen, etwa wenn in der laufenden Debatte über die Abgeltung der Inflation besser verdienende Schichten beziehungsweise deren Interessenvertretungen auf Zuwächse zugunsten einkommensschwächerer Lohnempfänger verzichten. Aber die Bereitschaft, auch auf zusätzliche Privilegien zu verzichten, ist nicht sehr ausgeprägt und wird durch das negative Beispiel, das Politiker als Diener des Gemeinwohls in eigener Sache geben, noch weiter unterminiert. Die Gesellschaft sollte vor der Macht dieser entsolidarisierenden Tendenzen nicht kapitulieren, aber jede Gesellschaftspolitik, die nicht in Rechnung stellt, dass der Mensch zwar ein soziales, aber mehr egoistisches als altruistisches Wesen ist, muss Enttäuschungen erleben und bei eigenen Anhängern heraufbeschwören.
Norbert Leser ist emeritierter Professor für Sozialphilosophie und Präsident des Universitätszentrums für Friedensforschung in Wien.
Gastkommentar