In China wurden die Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag von den Demonstrationen in Hongkong überschattet.
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Peking. Peking hatte schon glänzendere Nationalfeiertage erlebt. Ausgerechnet zum 65. Geburtstag der Volksrepublik hingen die Regenwolken trüb über dem Tiananmen, einige Touristen ärgerten sich über das Gedränge, es kam zu kleineren Handgreiflichkeiten. Unbeeindruckt davon fand sich die Parteielite zusammen, um gemeinsam dem Konzert "Das schöne China und der glorreiche Traum" zu lauschen.
Alle waren sie gekommen, die früheren Präsidenten Hu Jintao und Jiang Zemin - über dessen Ableben es vor zwei Wochen wieder einmal Gerüchte gegeben hatte -, die abgetretenen Premierminister Li Peng, Wen Jiabao und Zhu Rongji sowie alle noch lebenden Mitglieder des Ständigen Ausschusses des Politbüros. Nur der ehemalige Polizeiminister Zhou Yongkang war aus verständlichen Gründen verhindert; er wartet in der Untersuchungshaft auf seinen Korruptionsprozess.
Die Worte von Staats- und Parteichef Xi Jinping, der zu Solidarität in der Partei aufrief, galten nicht zuletzt ihm: "Wir werden alle Probleme bewältigen, welche die Einheit, Stärke und Kreativität der Partei unterminieren." Xi sprach in seiner Rede ausschließlich die Geschlossenheit in der Partei an, die er angesichts der laufenden Anti-Korruptionskampagne offensichtlich gefährdet sieht. Dass auch durch sein Land möglicherweise ein Haarriss geht, erwähnte er mit keiner Silbe.
Hongkong muckt weiter auf
Zum selben Zeitpunkt gingen in Hongkong erneut zehntausende überwiegend junge Menschen auf die Straße, um für ihr Recht auf freie Wahlen zu demonstrieren. Es war ruhig geblieben seit jener Nacht vom Wochenende, in der die Einsatzkräfte mit Pfefferspray und Tränengasgranaten gegen die Protestierenden vorgingen. Befürchtungen, wonach die Straßen in der Nacht vor dem Nationalfeiertag gewaltsam geräumt werden könnten, hatten sich nicht bewahrheitet, stattdessen ging über die Regenschirm-Träger ein heftiges Gewitter nieder. Jene Schirme, mit denen zuvor Polizeiattacken abgewehrt worden waren, hatten wieder einmal ihren hohen Wert unter Beweis gestellt. Nun hängen sie als Symbol der Demokratiebewegung vor den Barrikaden, mit denen die Hauptverkehrsschlagadern weiträumig abgeblockt werden.
Besonders bedrohlich wirkt die Stimmung am Nationalfeiertag trotz der wachsenden Zahl an Demonstranten nicht: Es wird gelacht und aufgeregt geschnattert, zwischendurch erinnern Studentenführer über Megaphone daran, warum man überhaupt hier ist: Demonstrieren, für ein freies Wahlrecht 2017 und den Rücktritt des Peking-treuen Verwaltungschefs, aber bitte schön friedlich und dass auch ja die Straßen sauber gehalten werden. Prompt schnappt sich ein Trupp junger Leute die riesigen schwarzen Müllsäcke und marschiert ab durch die Mitte.
Eine von ihnen ist Karen, eine 20-jährige Wirtschaftsstudentin, die noch am Sonntag eine volle Ladung Pfefferspray abbekommen hat: "Das hat ganz schön wehgetan, aber ein paar Ältere haben mir rasch mit Milch die Augen ausgewaschen", erzählt sie. Während sie auf die leeren Straßen und gesperrten Juweliergeschäfte zeigt, die normalerweise von Festlandchinesen während der Ferien zum Nationalfeiertag gestürmt werden, ahnt sie, dass ihre Stadt nie wieder dieselbe sein wird: "Wir stehen alle noch unter Schock. Wir haben in Hongkong ein normales, sicheres Leben geführt, aber das Chaos ist schnell unsere neue Normalität geworden. Und das Fürchterliche ist, dass wir uns trotz Tränengas und Polizeigewalt immer weniger fürchten."
Sie kennt das Ultimatum der Studenten, wonach Regierungschef Leung Chun Ying bis Donnerstag zurücktreten und die umstrittene Wahlreform revidiert werden soll. Doch was soll geschehen, falls die Forderungen tatsächlich erfüllt werden, mit welcher Strategie soll man auf eine Ablehnung reagieren? Darauf gibt es keine Antwort, zumindest keine einheitliche: Die Studenten wollen sich nicht von der großen "Occupy Central"-Bewegung vereinnahmen lassen und sind ihrerseits in verschiedene Gruppen aufgesplittert. "Das ist schon ein ziemliches Durcheinander hier", gibt Karen zu.
Business statt Demokratie
Das weiß auch der zum Rücktritt aufgeforderte Hongkonger Verwaltungschef Leung Chun Ying, der seine Brachialtaktik nach dem Wochenende rasch geändert und die Bereitschaftspolizei abgezogen hat. Geharnischte Sicherheitskräfte, die selbst Halbwüchsige mit Tränengas attackieren, geben kein schönes Bild ab, außerdem haben sich nach den Ausschreitungen weite Teile der im Prinzip konservativen Bürgerschaft auf die Seite der Demonstranten geschlagen. Das könnte sich mit einem Andauern der Proteste jedoch ändern, zudem steht die Wirtschaftselite weitgehend hinter Peking, womit man in der Vergangenheit schließlich glänzende Geschäfte gemacht hat.
Das offizielle Hongkong feierte den Nationaltag daher mit einem symbolträchtigen Bild: Während Verwaltungschef Leung bei einem Glas Champagner den "chinesischen Traum" hochleben ließ, prangten Chinas Nationalflaggen im Hintergrund doppelt so groß wie die Stadtwappen. Nur die offizielle Zeremonie zum Hissen der Fahne am Bauhinia Square musste auf wenige Minuten verkürzt werden, da sich einige Studenten um den 17-jährigen Anführer Joshua Wong Zutritt verschaffen konnten und dem Mast demonstrativ den Rücken zuwendeten. Zumindest das hätte in Peking nicht passieren können, denn dort wird bekanntermaßen nichts dem Zufall überlassen: Sogar die 10.000 Tauben, die man über dem Tiananmen feierlich freiließ, wurden nach Berichten der Zeitung "People’s Daily" zuvor einzeln auf Sicherheitsrisiken und versteckte Botschaften durchsucht. Auch an Stellen, die selbst bei Tauben als höchst privat einzustufen sind.