32.000-Seelen-Städtchen flächendeckend mit Wahlwerbung bombardiert. | Kandidaten bis zur letzten Sekunde auf Stimmenfang. | London. Briten sind zurückhaltend. Sie belästigen Fremde nicht einfach ungefragt mit ihren Problemen. Wenn man sich dieser Tage also als Tourist durch London bewegt, würde man nie auf die Idee kommen, dass in nur wenigen Stunden eine der spannendsten Wahlen der vergangenen Jahrzehnte im Vereinigten Königreich stattfindet.
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Mittel gegen Tränensäcke, italienisches Essen, ja sogar günstige Flüge nach Wien: Auf Londoner Plakatwänden bekommt man so allerhand zu sehen. Etwas allerdings nicht: Politiker oder Parteiwerbungen - und das so knapp vor der Wahl heute, Donnerstag.
Dabei steht das Vereinigte Königreich am so oft strapazierten Scheideweg. Nach 13 Jahren an der Macht könnte die Labour-Partei von den Konservativen abgelöst werden, die in allen Umfragen führen. Zudem sieht es so aus, als erhielte erst zum zweiten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg keine Partei die absolute Mehrheit. Dann wäre man auf die dritte Partei im Land, die Liberaldemokraten, angewiesen. Die würden dann versuchen, das britische Wahlsystem, das die beiden Großparteien favorisiert, zu ändern. Laut Umfragen ist das Rennen knapp und Konstellationen von rechter absoluter Mehrheit bis Mitte-Links-Bündnis möglich.
Doch Werbeplakate politischer Parteien sind einfach nicht vorhanden. Einheimische versichern zwar glaubhaft, schon den einen oder anderen Kandidaten von einem Plakat lächeln gesehen zu haben. Schwierig wird es erst bei der Ortsbestimmung. "Eines steht bei der Autobahnausfahrt", ist sich die 17-jährige Schülerin Lorena sicher. "Wahlplakate braucht es nicht. Läuft alles über den Flimmerkasten. Wir machen das jetzt wie in Amerika mit einer Fernsehkonfrontation", erklärt der Wirt in einem Londoner Innenstadt-Pub.
Alle Parteien setzenauf Sparprogramm
Dezente Stille im Nobelkaufhaus Harrods, auch wenn Nobelkaufhausbesitzer Julius Meinl V. unüberhörbar in einer Ecke via Handy über einen Herrn Kallinger oder Kalina spricht. Die wenige Schritte entfernte Verkäuferin übt sich in stoischer Ruhe. Doch viel braucht es nicht - eigentlich nur das Wort "election", "Wahl", an sich -, um zu merken, dass der Schein ruhigen Wahlkampfs trügt. "Ich kann es gar nicht mehr erwarten, dass die Wahl endlich vorbei ist", sagt sie. Seit Monaten gebe es kein anderes Thema mehr in den Medien. Alles dreht sich um "election, election, election". Seit Wochen bekommt sie fast täglich politische Postwurfsendungen. Und ihr Tipp für den Wahlausgang? "Ich hoffe Gordon Brown", heißt es kurz. Er sei der Beste.
Für den Premierminister und Chef der Labour-Partei kann sich auch Paul erwärmen. "Die neue Regierung wird auf jeden Fall ernsthafte Kürzungen vornehmen, darin sind sich alle Parteien einig. Die Frage ist nur, wen es am härtesten treffen wird", erklärt der Wirtschaftsstudent. Mit Labour würden es nicht die sein, die ohnedies schon nichts haben.
Emsiges Arbeiten auf dem Platz der Horse Guards Parade. Arbeiter bereiten das "Trooping the Colour" vor, die Militärparade zu Ehren des 84. Geburtstags der Queen, die nächsten Monat stattfindet. Tribünen werden aufgebaut, Filmplätze eingerichtet, Kies gestreut. Einer der Arbeiter kann Brown nur wenig Sympathie abgewinnen. Ob er glaubt, dass die Wahl ein knappes Rennen wird? "Ich hoffe nicht, wir müssen den Kerl da drüben rauskriegen", sagt er und zeigt in Richtung Downing Street 10, den Amtssitz britischer Premierminister. Eine klare Mehrheit für Konservativen-Chef David Cameron wäre für ihn der beste Wahlausgang.
Darauf hoffen auch die Wirtschaftsgrößen Englands. Egal ob Wirtschaftskammer oder das bekannte Magazin "The Economist": Alle stehen sie hinter David Cameron und hoffen, dass sich entgegen der Prognosen doch noch eine Absolute für die Tories ausgeht. Dann käme die Sanierung der maroden britischen Wirtschaft schnell in Gang, heißt es. Frei nach Camerons Devise: "Wir müssen sofort die Ärmel aufkrempeln und nicht erst im Jahr 2011, wie es Labour plant." Doch derzeit sieht es eher so aus, als ginge sich eine Alleinregierung der Konservativen nicht aus. Das würde weiter Instabilität bedeuten, entweder durch den drohenden Fall der Regierung oder durch Neuwahlen, die mögliche Reformen weiter verzögern würden.
Geschlafen wird - wenn überhaupt - im Bus
Cameron tut, was er kann, um seine Fans nicht zu enttäuschen. Die letzten Tage hat er sich auf eine Rund-um-die-Uhr-Wahltour begeben. Geschlafen wird - wenn überhaupt - im Bus. Schließlich sind laut einer Umfrage des "Independent" 40 Prozent der Wähler noch unentschlossen. Im Visier hat er - wie seine Konkurrenten auch - die "battleground seats", jene hart umkämpften Wahlkreise, in denen sich Sieg oder Niederlage entscheiden. Rund 150 davon gibt es den Experten zufolge quer über das ganze Land verstreut. Und so geraten Orte ins Rampenlicht, von denen der Durchschnittsbürger noch nie etwas gehört hat. Wie etwa die 32.000-Seelen-Gemeinde Pudsey. Dort findet derzeit das statt, was den Londonern erspart blieb: Flächendeckendes und andauerndes Bombardement mit Wahlwerbung. "Es ist zu viel", ist sich die Mehrheit der Bewohner sicher.
Auch der Shooting-Star dieser Wahlen, der Liberaldemokrat Nick Clegg, tourt ununterbrochen durch England. Seine herausragenden Auftritte bei den Fernsehduellen haben die Partei zwar aus ihrem Schattendasein herausgeholt und in vielen Umfragen auf den zweiten Platz vor Labour katapultiert. Damit hat er sich aber auch die volle Antipathie beider Großparteien gesichert, die versuchen, die Liberaldemokraten zwischen sich aufzureiben.
Doch daran ist die Partei gewöhnt. Schon oft hat man in der Vergangenheit von links und rechts den Versuch gestartet, der Partei das Wasser abzugraben. 1992 hat der Chef der Liberaldemokraten Ashdown seine Partei als nicht-sozialistische Alternative zum Thatcherismus positioniert. Dann kam Tony Blair und hat als Labour-Chef seine Partei von alten sozialistischen Ideologien entstaubt und New Labour formiert. Nun hat David Cameron seine Partei zu einer progressiven, liberalen Partei erklärt und drang damit ebenfalls in das Territorium der Liberaldemokraten ein. Er ging sogar soweit, eine Fusion der Parteien vorzuschlagen.
Doch der Schuss ging offenbar nach hinten los, denn mit dieser Andeutung einer politischen Nähe machte er die Liberaldemokraten offenbar auch für Konservative wählbar. Nun werden Tories und Labour nicht müde davor zu warnen, dass jede Stimme für Clegg eine Stimme für ein "Hung Parliament" sei, also dafür, dass keine Partei eine absolute Mehrheit erhalte und somit für die Briten ungewohnte Koalitionsverhandlungen anstünden.
Werden die erst einmal gestartet, könnte es so richtig laut werden im Vereinigten Königreich, wenn die Parteien versuchen, ihre Forderungen unter einen Hut zu bringen. Doch genau das, so scheint es, wollen viele und so eine neue politische Ära in Großbritannien einläuten, in der nicht mehr nur zwei Parteien dominieren.
Entscheidung in Großbritannien: Was die Parteien fordern
Unterhaus
* Labour:Einführung einer Zweitstimme bei den Wahlen. Abgeordnete müssen mit absoluter Mehrheit gewählt werden. Erhält kein Kandidat mehr als 50 Prozent der Stimmen, wird der schwächste Kandidat eliminiert und seine Zweitstimmen auf die Parteien aufgeteilt. Dieser Vorgang wird wiederholt, bis ein Kandidat die absolute Mehrheit hat.
Konservative: Fairere Wahlen durch Anpassung der Größe der Wahlbezirke.
Liberaldemokraten: Ähnliche Reform, wie Labour sie will, zudem hat der Wähler das Recht, die Kandidaten nach Präferenz zu ordnen.
OberhausLabour: Abschaffung des Erbparlamentarismus. Alle Abgeordneten werden demokratisch gewählt. Bis jetzt gibt es Lords, die auf Lebenszeit einen fixen Sitz haben.
Konservative: Keine größeren Reformen.
Liberaldemokraten: Abschaffung des Erbparlamentarismus. Außerdem soll die Zahl der Abgeordneten spürbar reduziert werden.
MandatareLabour: Die Abgeordneten dürfen nicht mehr für Lobbying-Firmen tätig sein. Diese müssen außerdem registriert und transparent werden. Fixe Regierungsperioden. Derzeit darf der britische Premierminister innerhalb von fünf Jahren jederzeit Wahlen ausrufen.
* Konservative: Zahl aller Abgeordneten um 10 Prozent reduzieren. Abgeordnete können von ihren Wählern bei Fehlverhalten abgewählt werden. Ex-Minister dürfen zwei Jahre lang nicht für Lobbying-Firmen tätig sein. Bis zu zehn Jahre nach Amtsende müssen Minister um Erlaubnis fragen, wenn sie in die Privatwirtschaft gehen.
* Liberaldemokraten: Zahl aller Abgeordneten wird um 150 reduziert. Abgeordnete können von ihren Wählern bei Fehlverhalten abgewählt werden. Abgeordnete dürfen nicht mehr über Angelegenheiten verhandeln, in denen sie für eine Lobbying-Firma tätig sind. Diese müssen ihre Finanzgebarung offenlegen.
Europa
* Labour: Kein Beitritt zur Eurozone.
* Konservative: Kein Beitritt zur Eurozone. Jeder EU-Vertrag, durch den britische Kompetenzen an Brüssel abgegeben würden, unterliegt einer verpflichtenden Volksabstimmung.
* Liberaldemokraten: Beitritt zur Eurozone möglich, Volk muss aber in einem Referendum zustimmen.
WirtschaftLabour: Vor dem Jahr 2011 wird kein Sparpaket geschnürt. Ab dann: Keine oder fast keine Gehaltserhöhungen im öffentlichen Sektor. Steuererleichterungen für Pensionsversicherungen werden für Reiche gestrichen. Einführung eines Einkommenssteuersatzes von mehr als 50 Prozent.
Konservative: Der Maximalsteuersatz von 50 Prozent bleibt. Gehälter im öffentlichen Sektor werden umgehend eingefroren. Ausgenommen sind nur Menschen mit niedrigstem Einkommen. Öffentliche Ausgaben sollen spürbar reduziert werden.
* Liberaldemokraten
Vor 2011 wird kein Sparpaket geschnürt. So wie
die Konservativen fordern auch sie die Reduzierung öffentlicher Ausgaben.