Zum Hauptinhalt springen

Keine Gnade mit Putin-Gegner

Von WZ-Korrespondentin Simone Brunner

Politik

Regisseur Oleg Senzow befindet sich im Hungerstreik. Seinen Unterstützern wird derweil der Prozess gemacht.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 6 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Moskau. Manchmal sagen Gesten mehr als tausend Worte. Als der Prozess an diesem heißen Nachmittag zu Ende ist, stellt sich Alisa Safina vor dem Gerichtsgebäude auf, die Finger zu einem Victory-Zeichen gespreizt, und lässt sich von ihren Freunden fotografieren. Es ist ein Zeichen, mit dem auch der ukrainische Regisseur Oleg Senzow vor Gericht immer wieder für die Kameras posierte. Der großgewachsene, schlaksige Mann, erschöpft und ausgemergelt, der durch die Gitterstäbe hindurch noch die Finger zum Siegeszeichen geformt.

Die 21-jährige Alisa Safina mit dem braunen Lockenkopf kennt den inhaftierten Regisseur nicht persönlich. Doch seit Senzow wenige Wochen vor der Fußball-WM in einer Strafkolonie nördlich des Polarkreises in den Hungerstreik getreten ist, setzt sie sich unermüdlich für seine Freilassung ein. Sie hat bei Vernissagen über seinen Fall gesprochen, Flugblätter auf den Straßen Moskaus verteilt und sich ein T-Shirt mit seinem Foto bedrucken lassen. "Freiheit für Senzow", steht darauf, und Senzow macht das für ihn so typische Fingerzeichen. Seit Senzow hungert, hat Safina jeden Tag ihren Facebook-Status aktualisiert, wie andere Senzow-Untersützter auch: Weiße Schrift auf schwarzem Grund, je nachdem, wie viele Tage der ukrainische Regisseur schon im Hungerstreik war. Zehn Tage. 20. 50, 60 Tage.

Keine Begnadigung vor Fußball-WM, anders als 2014

Senzow, in einem umstrittenen Verfahren wegen Terrorismus zu 20 Jahren Haft verurteilt, wollte die Aufmerksamkeit während der Fußball-WM nutzen, um auf das Schicksal der politischen Gefangenen in Russland aufmerksam zu machen. Doch während die Fernsehteams abgezogen sind, der goldene Pokal vergeben ist und die Schlachtgesänge aus den Stadtzentren verschwunden sind, ist keiner der Gefangenen freigelassen worden. Anders, als etwa vor den Olympischen Winterspielen in Sotschi 2014, als Regimegegner wie der Oligarch Michail Chodorkowskij und die Pussy Riot-Aktivistinnen begnadigt und aus der Haft entlassen wurden. Zuletzt hatte sich auch Senzows Mutter mit einem Gnadengesuch an den russischen Präsidenten Wladimir Putin gewandt. Doch Senzow müsse selbst um Gnade bitten, hatte zuvor Putin-Sprecher Dmitrij Peskow gesagt. Dazu kam es nicht. Bald werden es drei Monate sein, dass Senzow hungert.

Stattdessen stehen heute Senzows Unterstützer, wie Alisa Safina, vor Gericht. Es ist ein schwüler Sommertag im August, auch im Bezirksgericht Twerskij, in einer ruhigen Gasse im Moskauer Stadtzentrum. Ihnen wird Artikel 20.2.5. zur Last gelegt, "Störung der öffentlichen Ordnung durch die Organisation oder Durchführung eines Protests". Dabei hätten Safina und ihre Kollegen damals nur einige Flugblätter auf Russisch, Spanisch und Englisch im Moskauer Stadtzentrum verteilt, so Safina. Das war Ende Juni, als in Moskau noch feiernde Fußballfans aus aller Welt durch die Innenstadt zogen. Doch während die lärmenden Fans unbehelligt blieben, wurden Safina und zwei Kollegen von der Polizei festgenommen. Sie wurden zu einer Strafzahlung von 20.000 Rubel (rund 270 Euro) verurteilt.

Senzow war 2015 zu 20 Jahren Straflager verurteilt worden. Die russischen Behörden werfen ihm vor, Terroranschläge in seiner Heimatstadt Simferopol, der Hauptstadt der 2014 von Russland annektierten Krim, geplant zu haben. Im Zentrum der Anklage stand der Vorwurf, Senzow sei Kopf einer terroristischen Vereinigung und mit der ukrainischen rechtsextremen Gruppierung "Rechter Sektor", die in Russland verboten ist, im Bunde. Senzow selbst hat nie einen Hehl daraus gemacht, ein Gegner der russischen Annexion der Krim zu sein. Ebenso wenig, dass er das russische Gericht nicht anerkennt - schlichtweg aus dem Grund, weil er als Krim-Bewohner kein russischer, sondern ein ukrainischer Staatsbürger sei und unrechtmäßig nach Russland verschleppt wurde. Doch im Laufe des Prozesses wurde es noch grotesker: Der Terrorismusvorwurf gründete sich maßgeblich auf die Aussage eines ebenso Angeklagten, der jedoch später vor Gericht angab, er sei von den russischen Beamten unter Folter zu seinen Falschaussagen gegen Senzow gezwungen worden.

Während Senzow in russischen Medien als "Terrorist" geschmäht wird, ist es vor allem die Moskauer Underground-Szene, die auf den Fall aufmerksam machen will. Wie im Teatr.doc, einem kleinen Moskauer Dokumentartheater. "Der Krieg ist nahe", heißt das Stück, das vom Krieg in der Ostukraine, der Annexion der Krim und dem Prozess gegen Oleg Senzow erzählt. Nach dem Ende des Stückes stehen die Schauspieler und Aktivisten noch lange zusammen, um zu diskutieren, wie sie Senzow helfen können. Eine Schauspielerin rät, sich auf einer Internetseite selbst die Flugblätter auszudrucken und auf den Straßen zu verteilen. Eine Aktivistin schlägt vor, einen Spaziergang zu organisieren. "Wir müssen doch irgendetwas tun", sagt eine junge Frau. Aber mehr, als ein Zeichen zu setzen - freilich immer unter einem großen persönlichen Risiko -, können auch sie nicht tun.

Macron setzte sich bei Putinfür Senzow ein

Wie es im Fall Senzow weitergehen soll, ist unklar. Unter den Hashtags "freesentsov" und "#saveolegsentsov" haben sich international viele Unterstützer für seine Freilassung eingesetzt. 200 internationale Regisseure haben zuletzt eine Petition für Senzow unterschrieben. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat den Fall direkt gegenüber Putin angesprochen. "Der Hungerstreik ist eine Tragödie", sagt Michael Roth, Staatsminister für Europa im deutschen Außenministerium, zur "Wiener Zeitung". "Es gibt eine klare Erwartungshaltung vonseiten der EU und anderen Vertretern der internationalen Gemeinschaft, Oleg Senzow freizulassen." Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Senzow Ende Juni aufgefordert, seinen Hungerstreik zu beenden - und die russischen Behörden, den Regisseur medizinisch zu versorgen.

Doch eine Verlegung ins Krankenhaus lehnt Senzow ab, sagt sein Anwalt Dmitrij Dinse. Er habe Angst, dort zwangsernährt und misshandelt zu werden. Derweil verschlechtert sich Senzows Gesundheitszustand immer weiter. "Er hat Probleme mit dem Herzen, sein Puls ist schwach und er leidet an Blutarmut", so Dinse gegenüber der "Wiener Zeitung". Seit dem Hungerstreik habe er 30 Kilogramm verloren - aber er sei fest entschlossen, weiter zu hungern.