Die Impfpflicht wird ausgesetzt, in drei Monaten wird neu evaluiert. Die Kommission warnt vor einer Herbstwelle.
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Im Hindernislauf kämpfte sich die umstrittene Impfpflicht seit Monaten über zahlreiche Hürden. Nun ist das Vorhaben gestürzt, ob es wieder aufsteht, ist unklar. Am Mittwoch erklärte die türkis-grüne Bundesregierung nach dem Ministerrat, dass die Impfpflicht ausgesetzt wird. Strafen wird es keine geben.
Ursprünglich war vorgesehen, dass die Polizei ab 15. März Verstöße ahnden kann. Geplant ist nun, dass das Impfpflicht-Gesetz als Ganzes ausgesetzt wird, so Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP): "Das bringt mit sich, dass es auch keine Kontrollen gibt." Eine Verordnung des Gesundheitsministers sei in Arbeit, danach brauche es noch den Beschluss im Hauptausschuss des Nationalrats, sagte sie.
Edtstadler und Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) stützten ihre Entscheidung auf den Bericht eines Expertengremiums. Es besteht aus den Medizinern Eva Schernhammer und Herwig Kollaritsch, dem Staats- und Medizinrechtler Karl Stöger und der Zivilrechtlerin Christiane Wendehorst. Sie legten der Regierung am Mittwoch ihre erste Evaluierung zur Impfpflicht vor.
Die dortigen Empfehlungen würden umgesetzt, sagte Edtstadler. Die Pflicht werde ausgesetzt, "weil viele Argumente dafür sprechen, dass der Grundrechtseingriff nicht gerechtfertigt ist". Die Pflicht sei aufgrund der vorherrschenden Omikron-Variante des Coronavirus nicht verhältnismäßig.
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"Derzeit nicht erforderlich"
Der öffentlich zugängliche Kommissionsbericht stellt aber weniger die Omikron-Variante in den Mittelpunkt, sondern den Zeitfaktor. Er schließt die generelle Zulässigkeit der Impfpflicht nicht aus. Im Gegenteil: Die Impfpflicht wird als probates Mittel zur Erreichung einer höheren Durchimpfung gesehen. Sie müsse aber zielgerichtet eingesetzt werden.
Eine sofortige Umsetzung sei "derzeit noch nicht erforderlich bzw. nicht angemessen". Erste Modellierungen würden andeuten, dass es im April "zu einem deutlichen Abflachen der Inzidenzen kommt und danach, durch die Saisonalität der Coronaviren, sich die Infektionen auf niedrigem Niveau stabilisieren". Diese Phase werde, lege man den bisherigen Pandemieverlauf zugrunde, bis zum Spätsommer anhalten.
Aufgrund des derzeitigen Immunisierungsgrades (rund 77 Prozent der Bevölkerung), der Pathogenität der Omikron-Variante und der Behandlungsmöglichkeiten sei nicht zu erwarten, dass eine allgemeine Impfpflicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt dazu imstande ist, "einen wesentlichen Einfluss auf die Belastung der medizinischen Infrastruktur durch Covid-19-Patienten zu nehmen".
Eine sofortige Umsetzung wäre nur bei Personen, die bisher noch keinerlei Immunisierung aufgebaut haben, gedeckt. So könnten diese bis zum Herbst eine komplette Grundimmunisierung aufbauen. Es gebe aber auch bei dieser Gruppe medizinische und rechtliche Argumente für "ein Hinausschieben". "Eine aus nur zwei Teilimpfungen bestehende Impfung" biete nämlich "einen gewissen Schutz vor systembelastenden schweren Erkrankungen".
Abnehmende Immunität
Für den Herbst ist die Kommission vorsichtig. Sie hält es aufgrund der bisherigen Pandemieerfahrungen für sehr wahrscheinlich, "dass im Herbst 2022 eine neue, möglicherweise massive Infektionswelle droht". Sie könnte "auf eine Bevölkerung treffen, deren Immunität massiv abgenommen hat". Laut Modellrechnung sei bis Anfang Oktober mit einem substanziellen und rasch eintretenden "Immunitätsverlust gegen symptomatische Infektion oder gegen schwere Erkrankungen" zu rechnen. Eine Überlastung des Gesundheitssystems und drastische Eingriffe wie ein Lockdown seien möglich.
Der Bericht pocht daher darauf, dass die Immunität in der Bevölkerung rechtzeitig wieder aufgefrischt wird. "Es sollten möglichst viele Personen Anfang September bis Mitte Oktober eine Auffrischungsimpfung erhalten haben, wobei das letzte immunologische Ereignis (das kann auch eine Genesung sein, Anm.) dann im Hinblick auf die Herbstwelle idealerweise möglichst kurze Zeit zurückliegen sollte." Impfe man zu früh, verpuffe ein wesentlicher Teil der Immunität wieder bis zur befürchteten Herbstwelle. "Zudem deuten neueste Daten deutlich an, dass verlängerte Intervalle zwischen den Auffrischungen einen günstigen Einfluss auf die Immunantwort haben."
Zeitpunkt entscheidend
Die Impfpflicht wird als ein probates Mittel zur Erreichung einer hohen Durchimpfungsrate gesehen. Allerdings sei weniger die Impfpflicht an sich der richtige Weg, sondern "eine zielgerichtete Impfpflicht". Diese könne bei richtigem Timing der Herbstwelle entgegenwirken. Eine neue Evaluierung der Impfpflicht in drei Monaten wird im Bericht gefordert. Diese wird es auch geben, kündigte Gesundheitsminister Rauch an.
Bis dahin will die Kommission mehrere Faktoren beobachten. Darunter mögliche neue Varianten, den Immunisierungsgrad in der Bevölkerung, die Impfakzeptanz, Therapien und Behandlungsmöglichkeiten. Der Bericht stellt aber in den Raum: Komme es zu keinen gravierenden Änderungen, "könnte mit hoher Wahrscheinlichkeit nur durch eine Impfpflicht einigermaßen sichergestellt werden, dass rechtzeitig ein hoher Anteil jener Personen, die ihre Immunität weitgehend verloren haben, wieder einer Immunisierung durch Auffrischungsimpfungen zugeführt wird". Für viele Betroffene werde es sich um die vierte Impfung handeln.
Eine Impfung im Spätsommer oder Frühherbst sei jedenfalls das "gelindere Mittel". Es bestehe "zumindest die Möglichkeit, dass sich infolge neuer Entwicklungen und/oder Erkenntnisse eine Umsetzung der Impfpflicht ganz erübrigen wird bzw. noch bessere Impfstoffe zur Verfügung stehen".