Welt-Autismus-Tag: Die Psychiaterin Maria Asperger Felder über eine andere Art der Wahrnehmung.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Wiener Zeitung: Autismus hat viele unterschiedlichen Bezeichnungen: Behinderung, Störung, Krankheit, andere Intelligenz, menschliche Variation, Neurodiversität. Was ist Autismus?
Maria Asperger Felder: Ich sehe Autismus immer als ein Anderssein, als eine Besonderheit. Autismus ist ganz klar keine Krankheit sondern eine Störung, die dann Krankheitswert bekommen kann, wenn der betroffene Mensch mit den Anforderungen, die auf ihn zukommen, nicht zurechtkommt. Wenn er in unserer Gesellschaft versagt, dann kann er Komorbiditäten entwickeln.
Wie entsteht diese Störung?
Im Grunde verlaufen bei dieser Störung die Verarbeitung der Wahrnehmung und das Denken nicht so automatisch wie bei uns. Wir merken überhaupt nicht, dass wir immer und überall wahrnehmen, nämlich sehen, hören, riechen, schmecken oder etwas auf der Haut spüren. Wenn die Perzeption gestört ist, verliert der Mensch das Gleichgewicht. Es geht immer darum, dass bei Autisten Wahrnehmung störend sein kann oder überhaupt nicht ankommt, dass sie langsamer verarbeitet wird, und dass aus den einzelnen Informationen nicht so rasch wie bei uns ein Zusammenhang, ein Sinn, entsteht.
Welche Schwierigkeiten entstehen dadurch?
Sie betreffen die Theory of Mind, also das rasche Erkennen, was Andere meinen und fühlen, die "verminderte zentrale Kohärenz" und damit verbunden die Detailorientiertheit sowie die oft gestörte Handlungskompetenz.
Wenn Autismus keine Krankheit ist, wie kann man ihn dann behandeln?
In vielem ähnelt die Entwicklung autistischer Kinder der Entwicklung "gewöhnlicher" Kinder. Unterschiede liegen darin, dass das intuitive Ausgerichtetsein auf das Gesicht einer anderen Person nicht intuitiv vorhanden ist, dass die Imitationsfähigkeit geringer ist, dass Anderes beobachtenswert ist und beobachtet wird. Vieles, was andere Kinder einfach so lernen, muss einem autistischen Kinder anders vermittelt werden: Es ist auf verstehbar Konstruktivistisches fixiert. Dadurch lernt es anders. Man muss bei diesen Kindern daher vieles in Sprache fassen, erklären. Und man muss sie lehren, was es bedeutet, was andere Kinder, andere Menschen machen. Im Gegenzug muss man die Umgebungsmenschen ebenso belehren, wie sie mit diesen Kindern umgehen sollen, damit Stress, der bei Autisten sehr hoch ist, so niedrig wie möglich bleibt. Es geht um Lernen von Strategien. Das verstehe ich unter Therapie.
Spricht man von Autisten, hört man meist von Defiziten. Dinge, die sie gut können, bleiben im Hintergrund.
Ein Beispiel: Es heißt, Autisten seien unsportlich, vor allem Ballspiele seien ein Horror für sie. Unter den Fußballern gibt es Autismus-Spektrum-Betroffene, die als Goalie oder Verteidiger auf hohem Niveau spielen: Die orientieren sich anders, nämlich anhand einer Analyse des Bewegungsmusters.
Man muss immer genau nachfragen und sehen, wo der autistische Mensch Fähigkeiten besitzt und wo er etwas hat, wovon man ihn befreien muss. Es gibt unterschiedliche Muster und die sind für den Einzelnen ganz verschieden. Die einen sind mehr im Wahrnehmungsbereich betroffen, die anderen sind mehr interessengelenkt.
Autismus ist genetisch bedingt. Welche Rolle spielt die Umwelt bei der Entwicklung dieser Menschen?
Vor allem Familie und Schule sind schwerwiegende Faktoren. Ein gewöhnliches Kind in einer chaotischen Umwelt etwa hat es zwar auch nicht einfach, aber es entwickelt sich. Ein autistisches Kind in einer chaotischen Umwelt macht entweder zu und ist nicht erreichbar oder es ist noch chaotischer und ungehalten.
Die richtige Umgebung, gibt es die?
Ja. Etwa in einer Familie mit Routine und Struktur, beispielsweise mit festen Zeitpunkten zum Essen. Und zwar jeden Tag. Klare Regeln sind wichtig, weil sich das autistische Kind daran orientierten kann. Und Eltern, die emotional und klar handeln, die ihren autistischen Kindern die Welt erklären, sind ebenfalls hilfreich.
Was raten Sie Verwandten und Freunden?
Generell geht es immer auch darum, ein stückweit die Welt des anderen verstehen zu wollen. Das ist sehr schwierig. Und dass man gewisse Dinge auch tolerieren kann.
Vor allem dann, wenn Kinder in Schulen völlig stecken bleiben, ist auch eine Diagnostik sinnvoll. Diagnosen sind Erklärungen, sie schützten vor Überforderung und erklären den Eltern, warum ihr Kind gewisse Dinge anders macht. Ein Kindergeburtstag kann für so ein Kind eine schreckliche Überforderung sein. Wenn dem so ist, dann braucht es vielleicht eine andere Form des Feierns. Auch Lehrer sollten sich auskennen. Denn die Schulen von heute sind für autistische Kinder problematisch. Nicht wegen des Lernens, sondern vor allem wegen der vielen sozialen Fertigkeiten, die erwartet werden.
In Österreich wird Autismus nach wie vor in erster Linie dem Kinderbereich zugeordnet, erwachsene Autisten bleiben sehr sich selbst überlassen. Wie ist die Situation in der Schweiz?
In der Schweiz gibt es die so genannte Invalidenversicherung. Bei einigen Störungsbildern, darunter ADHS, motorische Störungen, Sinnenstörungen, werden finanzielle Mittel gesprochen für therapeutische Interventionen, damit diese Menschen Schule, Berufsausbildung, berufliche Laufbahn möglichst gut schaffen. Es ist positiv, dass die Schweiz für Förderung, Therapie oder unterstützende Maßnahmen Geld bereit stellt. Außerdem kann die IV, wenn notwendig, den Beruf begleiten, indem sie Coaches oder Berater zur Verfügung stellt oder Teilzeitarbeit ermöglicht.
Weiters gibt es in der Schweiz, wenngleich nicht flächendeckend, im Bereich Informatik einige Firmen, die Autisten beschäftigen. Sie sagen: "Autistisch wahrnehmende Menschen sind gewöhnlich wahrnehmenden Menschen überlegen."
Meist werden Autisten auf analytische Fähigkeiten reduziert. Dabei betonte Hans Asperger schon vor vielen Jahrzehnten, dass viele autistische Kinder ein sehr hohes Kunstverständnis besitzen. Wird dieses heute nicht fast zur Gänze ausgeblendet?
Das wirklich Kreative, das braucht einen Schuss Autismus. Damit Neues entsteht, dazu muss man alleine sein, sich abschotten können. Neues, das noch nie gedacht und formuliert wurde, kann nicht im Dialog entstehen. Zum Thema Kunstverständnis gibt es einige Beiträge von Hans Asperger. In einem schreibt er, dass autistische Kinder zwischen Kitsch und Kunst unterscheiden können. Er meinte damit wohl, dass sich diese Kinder nicht an den Zeitgeist anpassen, sondern dass ihnen auch das gefällt, was anderen in ihrem Alter sonst wenig zusagt. Dass das Kunstempfinden also aus der Egozentrik dieser Menschen heraus erklärbar ist.
Von Albert Einstein, Ludwig Wittgenstein, Thomas Jefferson oder Glenn Gould nimmt man an, dass auch sie autistische Züge, wohl das Asperger-Syndrom, hatten. Weniger hört man von weniger berühmten autistischen Erwachsenen. Wie kommen sie mit dem Leben zurecht?
Es gibt eine große Gruppen von Autisten, die im Arbeitsmarkt ziemlich gewöhnlich funktionieren. Diese Menschen haben entweder zum Teil eine spezielle Begabung, haben sich Strategien angeeignet, um sozial funktionieren zu können. Dazu brauchen sie viel Energie und Vitalität. Dann gibt es unter den Erwachsenen diejenigen, die über die Invalidenversicherung gewisse Hilfestellungen bekommen. Und dann gibt es die, die "scheitern", die aus dem Arbeitsprozess heraus fallen. Manche leben sehr zufrieden ihr Leben weiter, manche können aber auch sehr unglücklich leben, sehr gestört und sehr störend.
Gibt es eine Epidemie von Autismus?
Die Epidemiologie variiert wirklich stark: Früher hieß es, zwischen zwei und sechs Menschen von 10.000 sind autistisch. Heute geht man davon aus, dass bis zu ein Prozent der Bevölkerung davon betroffen ist. Allerdings beinhaltet dieses Prozent alle, die auch nur in die Nähe kommen, wie Menschen mit autistischen Zügen.
Fest steht, dass es keine Evidenz für die Zunahme der Störung gibt, aber es gibt eine Zunahme der Diagnosen. Die Zahlen sind sicherlich auf die größere Bekanntheit des Bildes, die größere Erfahrung zurückzuführen.
Bald werden alle Typen des Autismus, wie Kanner-Syndrom oder Asperger-Syndrom, als Autismus-Spektrum-Störung zusammengefasst.
Das könnte vor allem in der Forschung sinnvoll sein. Meinem klinischen Eindruck nach braucht es aber weiterhin eine Differenzierung aufgrund von Kriterien wie Begabungsniveau, Funktionsniveau und Schwere der Störung. Dann gibt es aber auch noch die Selbstbetroffenen, die sich - entsprechend der Diagnose eines Asperger Syndroms - als "Aspie" bezeichnen und in diesem Begriff eine Zugehörigkeit gefunden haben. Ob diese Menschen das verändern wollen ist fraglich.
Immer mehr Erwachsene werden mit dem Asperger-Syndrom diagnostiziert. Worauf führen Sie diese Entwicklung zurück?
Bis vor kurzen meinten viele Erwachsenenpsychiater noch: "Das ist eine Krankheit, die geht nur die Kinderpsychiater etwas an." Es gibt einen sehr großen Nachholbedarf in dem Bereich: Erwachsenenpsychiater sahen vor allem die depressiven oder psychotischen Bilder, die Suchterkrankung oder das dissoziale Verhalten und realisierten nicht, dass darunter eine Autismus-Struktur sein konnte. Sie haben wohl alle schon autistische Menschen in Therapie gehabt, sie haben sie nur noch nicht so bezeichnet. Mittlerweile gibt es schon mehr Wissen in der Berufsgruppe, vor allem, dass die Strukturen auch im Erwachsenenalter bestehen bleiben, dass die Menschen nur gelernt haben, damit durchs Leben zu kommen.
Viele Autisten und einige Wissenschafter kritisieren bei Therapien für Autisten vor allem den behavioristischen Ansatz, der sie dazu bringen soll, sich normal zu verhalten.
Ganz schwere Fälle von frühkindlichen Autisten müssen dazu gebracht werden, dass sie die Aufmerksamkeit auf Menschen richten. Das funktioniert häufig über den verhaltenstherapeutischen Ansatz. Dieser war früher viel enger definiert als heute. Es geht darum, dass man das Kind animiert, dass es auf das, was der Therapeut oder die Mutter ihm entgegenbringt, reagiert. Aber auch später, wenn das Kind älter ist, hat der behaviorale Ansatz noch einen Stellenwert. Weil autistische Kinder auf Fakten, die eine Logik haben, reagieren. Ich meine damit den Teil der Verhaltenstherapie, der für die Kinder klar, folgerichtig und nachvollziehbar ist. Sätze wie "Das hast du schön gemacht" nutzen da wenig. Für autistische Kinder ist das Nullinformation. Hilfreicher ist, wenn gesagt wird "das war eine glatte Drei" Sie brauchen stringente, klare Reaktionen.
Der Psychiater Laurent Mottron bemängelt, dass die Intelligenz von Autisten in der Regel nicht korrekt gemessen wird. Grund dafür sei ein auf Sprache zugeschnittener IQ-Test.
Man weiß, dass viele verwendete Tests nicht wirklich abbilden, welche Potentiale in den Kindern stecken und wie die Leistungsfähigkeit im Allgemeinen ist. In jedem Test hat man sprachliche und eher logisch, nicht-sprachliche Aufgaben. Das Problem, das ich immer wieder erlebt habe: Wie kann man dem autistischen Kind die Testaufgaben sprachlich so erklären, dass es den Test auch lösen kann. Das ist die Schwierigkeit. Man kommt mittlerweile auch davon ab und schaut, was ein Kind schafft, was es erreicht.
Es wird verlangt, dass Autisten von Nicht-Autisten lernen. Aber können nicht auch Nicht-Autisten von Autisten lernen?
Autisten sind respektvoller als wir, weil sie weniger pauschalieren. Und sie sind absolut ehrlich, bis hin, dass sie sich mitunter selbst damit schaden. Und sie sind sehr treue Menschen, haben ein gutes Gedächtnis und sind nicht oberflächlich. Autistische Kerne und Verhaltensweisen sind etwas Kostbares. Aber das Ausmaß ist wichtig und das Wissen darüber, was Autismus ist und wie damit zu leben ist.
Maria Asperger-Felder ist Kinder- und Jugendpsychiaterin in Zürich und spezialisiert auf Asperger- Autismus. Sie ist die Tochter von Hans Asperger.